Damaskus liegt an der Elbe
September 2018. Hoher Himmel im Norden. Sonne, 27 Grad. Alarmierte Spurensuche in Hamburgs südlicher Peripherie nach einer syrischen Flüchtlingsfamilie; die al-Nasers, ein Vater mit seinen vier Kindern, hatten im September 2015 bei mir in Wien Zuflucht gefunden. Kürzlich meldete sich auf der deutschen Handynummer von Sarah alNaser, 17, eine Stimme in Polen. Die Person legte sofort wieder auf. Da stimmte etwas nicht. Wir hatten länger keinen Kontakt gehabt. Doch die al-Nasers waren im neuen Leben angekommen: Die Kinder gingen zur Schule, auch der Jüngste hatte sich erholt. Dass deren Adresse, die Dratelnstraße 20, ein raues Pflaster war, ging aus Sarahs SMS hervor: „8 washing machines for 750 persons. No kitchen. Poor food. Luggage stolen. Fights. Police“.
Diese Adresse ist mein einziger örtlicher Anhaltspunkt. Dass die Flüchtlingsunterkunft auf der Elbinsel geschlossen worden war, ergab die Telefonrecherche, sonst erfuhr ich kaum etwas: Datenschutz.
Da bin ich nun, und hoffe auf den Zufall. Wo ist die Familie? Ist Sarah, dieser hübschen Jugendlichen, etwas zugestoßen? Herausfinden. Fakten helfen gegen Ängste.
In der von Funktionsbauten geprägten Dratelnstraße flutet der Verkehr. Die Container sind weg. Die von der Stadt Hamburg für Flüchtlingsunterkünfte angeheuerte Betreibergesellschaft verweigert mir, der Nichtverwandten, jegliche Auskunft. Besser ergeht es mir bei Schulleitungen der Gegend. Aber Sarahs Name scheint nirgends auf. Einstige Nachbarn geben sich einsilbig, sind froh, dass das Lager weg ist. Flüchtlinge, Asylanten, Migranten, Geduldete, Abzuschiebende, sie machen fast 40 Prozent der 55.000 Bewohner des hiesigen Bezirks, Wilhelmsburg, aus. Ein Viertel von ihnen lebt von staatlicher Unterstützung. Indes wirkt die Gegend kommunal intakt, vielfältig, lebendig; mehr als 20 Prozent aller Wilhelmsburger sind unter 18.
Youngster auf Skateboards zischen vorbei, auf einer Lichtsäule kleben Sticker. An anderer Stelle ist Maskottchen „Paule“neben ein Boot mit Kiel nach oben gesprayt, samt Smiley. Blanker Hass. Maliziös geschürt von den „Volksvertretern der Wutbürger“, den Brandbeschleunigern der „gefühlten Verlustängste der Gekränkten“. Erst kurz davor die Schreie von Neonazis, Hooligans im sächsischen Chemnitz nach einer Bluttat, die Hetze auf Migranten, der Aufruf von AfD, NDP, Pegida zum „Trauermarsch“.
Weiter durch die Gegend streifen, um nach Stunden die örtliche Polizeistelle anzusteuern. Liegt hier eine Vermisstenanzeige von Sarah al-Naser vor? Der erste Versuch am Schalter misslingt. Dranbleiben. Langes Warten. Alternativen erkunden. Und dann, gegen 14 Uhr, sehe ich sie, die patente, junge Beamtin, sie hilft. Informationsaustausch in einer Kammer, Systemcheck.
„Sie wissen, ich darf das offiziell nicht“, sagt sie knapp. Dienstvergehen im Namen der Zwischenmenschlichkeit. Die Erstaufnahme in der Dratelnstraße ist ihr von Einsätzen bekannt. „Die wurde damals ja fast überrannt. All die Flüchtlinge und der Winter vor der Tür. Da kam so einiges vor. Körperverletzung, das Messer saß locker, Machos, die Frauen und Kinder traktierten. Nicht schön. Auch dort hörten wir: ,Mit einer Frau rede ich nicht.‘ Dass wir in solchen Fällen zwecks Deeskalation angehalten sind, männliches Personal anzufordern, finde ich falsch“, meint sie beherzt.
Ein Link lässt sich nicht anklicken. Sperrvermerk? Ein ihr gewogener Kollege kommt, stellt Fragen, verschwindet wieder. Rätseln über die in Polen aufgetauchte Handynummer – in Hamburg werden täglich 30 Smartphones gestohlen. Hoffentlich ist Sarahs eines davon.
Kriminalität und Migrationskrise – ein heikles Thema, auch für diese Polizistin. „Generell gibt es weniger Delikte. Dass jedoch bei schweren Verbrechen der Anteil von nichtdeutschen Straftätern 2017 um vier Prozent gestiegen ist, ist bedenklich und heizt die fremdenfeindliche Stimmung an.“Dennoch: „Diejenigen, die Flüchtlinge und Asylanten unter Generalverdacht stellen, machen es sich leicht. Aber Fakt ist: Die vielen Asylverfahren setzen unser Rechtssystem unter Druck. Und das ist gar nicht gut, weil der Eindruck entsteht es funktioniert gekehrte Beamte und gibt mir eine Fotokopie: Sarah mit gelber Wollmütze in Großaufnahme! „Ja, das ist sie! Wo ist Sarah?“, entfährt es mir. „Alles in Ordnung. Die Familie lebt jetzt in Niedersachsen“, sagt er und nennt die Adresse.
Auf nach Fleestedt, südlich von Hamburg. Ein abgewohntes Einfamilienhaus. Haselnusssträucher, im verwilderten Garten steht ein Bus aus Hippie-Zeiten. Hinter den Sträuchern Stimmen. Und dann sehe ich sie: Sarah, ein langes Kopftuch streng unter dem Kinn verknotet, an einem Tisch in ein Buch vertieft.
Bei meinem „Hallo“blickt sie auf. Es ist ein verwundertes, erleichtertes Wiedersehen. Fragen über Fragen. Antworten. Ihr Deutsch ist perfekt. Und die Nummer in Polen? „Das kann ich mir nicht erklären. Aber ich habe schon seit einiger Zeit ein neues Handy“, sagt sie ruhig. „Bei uns war so viel los, dass ich dir die neue Nummer vielleicht nicht weitergegeben habe. Aber ist doch gut, sonst wärst du heute nicht da.“
Die Geschwister und der Vater werden gerufen: Marah, Dinah, Hamoud, und Ibrahim – Haare und Bart des 58-Jährigen sind weiß geworden. Er trägt den jüngeren Töchtern auf, Wasser, Tee, Obst und Süßes zu bringen, außerdem müsse ich meinen Koffer sofort aus dem Hotel holen und hier bleiben. Levantinische Gastfreundschaft. Die beiden Mädchen sind vergnügte Teens in Jeans, Sneakers und Kopftüchern; sie müssen bald weg, zum Fußballtraining. Der zwölfjährige Hamoud führt etwas erratisch sein Fahrrad vor. Nur der Vater sitzt schweigend an meiner rechten Seite, schiebt mir Feigen und Datteln zu.
Zu Hause, in Deir Ezzour, war er ein wohlhabender Geschäftsmann, handelte mit Autos, besaß vier Häuser, war stolz auf seine gebildete Frau und ihre sieben Kinder. Bis der IS kam. Hier wartet er nur auf eines: Dass seine in Damaskus ausharrende Frau Rukaya mit den drei restlichen Kindern end- Geboren 1955 in Graz. Studierte Geschichte und Philosophie. Dr. phil. Zunächst drei Jahre Entwicklungshelferin im südlichen Afrika. Begann im März 1989 im ORFAuslandsreport bei Hans Benedict ihre TV-Laufbahn. Bis 2013 beim ORF: u. a. Auslandsreport Brennpunkt Lichtblicke lich nachkommt. Er ist zwar froh – wie Sarah übersetzt –, dass Freunde dieses geräumige Haus vermittelt haben, die Miete und die Lebenshaltungskosten von öffentlichen Geldern abgedeckt werden, die Kinder zur Schule gehen, sie die Misere überstanden haben, aber tröstlich ist ihm das alles nicht. Er will sein altes Leben zurück.
„Wir werden Deutschland immer dankbar sein, dass uns geholfen wurde“, sagt seine Älteste, die die Familie zusammenhält. „Aber es ist ungerecht, dass meine Mutter und unsere Geschwister nicht nachkommen dürfen, obwohl es uns zugesagt war. Wir haben subsidiären Status, wir haben ein Recht darauf.“Selbstbewusst gibt sich die 17-Jährige. Sie, die Vorzugsschülerin, die anderen hilft, geht in die zwölfte Klasse eines Gymnasiums, das hier im ländlichen Raum keine Brennpunktschule ist, also keinen hohen Anteil von dürftig deutschsprechenden Schülern hat.
Sarah schildert die Odyssee vor dem Einzug in dieses Haus, im Oktober 2016. Die Erstaufnahmelager waren grenzwertig. „Das Schlimmste war die Ungewissheit. Überhaupt nach dem Vorfall in der Dratelnstraße“, sagt sie. Es geht um das Verfrachten in Busse, den Abtransport an einen unbekannten Ort. „Wir kamen von der Schule zurück, als mein Vater traurig sagte: Wir müssen hier raus. Hamoud lag im Bett und rührte sich nicht. Eine halbe Stunde später stand die Polizei da. Sie gaben uns zwei Stunden, keiner sagte uns etwas, warum und wohin, nur, dass wir sofort raus müssen. Plötzlich war die Angst wieder da.“Sie senkt den Kopf. Woher kam die Kraft, alles durchzustehen? „Hoffen und beten“, sagt sie. Der Bruder ihrer Mutter ist Imam. Trägt sie, die kluge, starke junge Frau, deshalb ein Kopftuch? Für sie kein Signum eines rückschrittlichen Islam, der Frauen diskriminiert, autoritär ist, sexualisierte Kontrolle ausübt?
Ihre Augen verengen sich: „Ihr versteht das nicht. Glaubt, Muslime sind radikal, weil manche dieser irren Terroristen den Islam missbrauchen. Nein, das Kopftuch ist für mich kein Symbol der Unterdrückung. Es ist Ausdruck einer religiösen Kraftquelle. Die täglichen Gebete, die Koranschule, in die ich jeden Samstag gehe, helfen mir, sie weisen mir, was richtig und was falsch ist.“Welche Koranschule? Wer unterrichtet dort? Sie bemerkt mein Befremden. Diese hochbegabte 17-Jährige – sie will in einem Jahr Wirtschaft und Pharmazie belegen, besucht nebenher Kurse, wurde aus 50 Bewerbern für ein Apothekenpraktikum ausgewählt –, grenzt sie sich von der freiheitlich säkularen Gesellschaft ab? Eine sensible Frage; ich spare sie auf.
Sarah bittet mich herein. In den ebenerdig angelegten Räumen hat jeder der fünf sein Refugium. Küche und Wohnzimmer sind funktional ausgestattet. Alles ist sauber. Neben dem Fernseher steht ein gläserner Schrank mit Medikamenten. „Das ist für Hamoud und unseren Vater“, sagt Sarah. Es sind Anti-Epileptika und Psychopharmaka. Ibrahim al-Naser nimmt die für ihn bestimmte Medizin jedoch nicht. Die Angst hält ihn ab. Die Angst vor Abhängigkeit. Die Angst . . .
Sarah ruft in Damaskus an. Die Verbindung funktioniert, eine der kleinen Schwestern erscheint auf dem Display. Es ist Heba, die jüngste. Freudiges Plappern der Achtjährigen; bald ist auch Aya zu sehen, sie ist elf. Sie leben bei Verwandten. Jetzt ist die Mutter zu sehen: ausdrucksvolle Augen, kräftige Nase, langes, dunkles Haar und gezeichnet, trotz der spontanen Freude. Sarah erklärt mein Kommen, während ich Rukaya Almousa Alahmad in Groß sehe, die 47-jährige Englischlehrerin.
Meinem „How are you?“folgt ein knappes „We are okay“. Und die Explosionen, die Treffer israelischer Jets auf dem Flughafen vor wenigen Tagen? Ihr einsilbiges „Yes, the airport is closed“signalisiert: „Frag nicht weiter.“Denn sie bangt. Auch um den 18-jährigen Sohn Raghad – die geschrumpfte Armee braucht Rekruten, jetzt, wo der siegreiche Massenmörder von Russlands Gnaden den Showdown sucht: in Idlib, der letzten Bastion der Aufständischen.
Die mittlerweile auf über drei Millionen Bewohner angeschwollene Grenzprovinz zur Türkei quillt über von Vertriebenen, Kämpfern, radikalen und weniger radikalen. Und wieder Massenflucht. Europa schottet sich ab. Der Weg nach Deutschland ist versperrt. Rukayas Augen glänzen wässrig: „I hope to see you some day. Together with my family.“
Fieberndes Sehnen Damaskus liegt an