Kolonie für 40 Jahre
Das 19. Jahrhundert in Südosteuropa sah zahlreiche Aufstände christlicher Volksgruppen gegen die osmanische Herrschaft. Griechenland erreichte 1830 die Unabhängigkeit, Serbien und Rumänien etwas später Autonomie. Russland und Österreich hofften auf Zugewinn aus dem Rückzug des Osmanischen Reiches, während Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg (1853–1856) auf türkischer Seite gegen Russland Krieg führten. Das russische Eingreifen auf Seite der orthodoxen Aufständischen auf dem Balkan 1877 führte zur Neuordnung der Region: Auf dem Berliner Kongress erhielten 1878 Serbien, Montenegro und Rumänien die Unabhängigkeit, Bulgarien verblieb nur nominell im Verband des Osmanischen Reiches. Als Gegengewicht zu dem dadurch gewachsenen russischen Einfluss erhielt Österreich-Ungarn das Recht, Bosnien-Herzegowina zu verwalten. Ebenfalls 1878 kam Zypern unter britische Verwaltung.
Nach dem Verlust der meisten italienischen Besitzungen 1859 und 1866 und der Niederlage gegen Preußen schien die territoriale Erweiterung der Donaumonarchie im Südosten wie eine Kompensation. Allerdings verschärfte dies die Konfrontation mit den russischen Ambitionen in Südosteuropa. Da die Übernahme Bosniens im Einvernehmen mit den osmanischen Behörden erfolgte, rechnete man mit einem friedlichen Einmarsch – dem k. u. k. Außenminister Julius Graf Andrassy´ wurde nachgesagt, das Land mit einer Musikkapelle besetzen zu wollen. Als die k. u. k. Truppen am 29. Juli 1878 in Bosnien einmarschierten, stießen sie aber auf erbitterten Widerstand vorwiegend muslimischer Bosnier. Aus dem „Spaziergang“wurde der Okkupationsfeldzug. Erst am 19. August gelang es im verlustreichen Häuserkampf, die Hauptstadt Sarajewo einzunehmen.
Dem Befehlshaber des XIII. Korps, Feldzeugmeister Joseph Philippovich Freiherr von Philippsberg, standen anfangs (mit den Truppen aus Dalmatien) rund 72.000 Mann zur Verfügung. Dies erwies sich als unzureichend; schließlich standen fünf Korps mit zusammen mehr als 200.000 Soldaten im Einsatz. Gefechte, Erschöpfung sowie Krankheit forderten rund 1000 Tote und 4000 Verwundete. Auf der Gegenseite waren 80.000 bewaffnete Aufständische und 13.800 reguläre osmanische Soldaten beteiligt; genaue Verlustzahlen sind nicht bekannt.
Bosnien-Herzegowina umfasste mehr als 50.000 Quadratkilometer; von den 1,14 Millionen Einwohnern waren 43 Prozent Orthodoxe, 39 Prozent Muslime und 18 Prozent Katholiken, ethnisch alle slawischer Abstammung. Der Begriff „Bosniaken“, der heute nur die muslimischen Bosnier bezeichnet, galt damals für alle Landesbewohner. Da viele Muslime Diskriminierungen befürchteten, emigrierten rund 8000 von ihnen. In Wahrheit aber stützte sich die k. u. k. Verwaltung in der Folge auf die bestehende muslimische Oberschicht – die meisten Grundbesitzer waren nach der Eroberung im 15. Jahrhundert zum Islam konvertiert, um ihre Privilegien zu erhalten.
Um die labile Struktur des habsburgischen Vielvölkerreiches nicht zu belasten, unterstanden Bosnien und die Herzegowina keiner der beiden Reichshälften, sondern dem gemeinsamen k. u. k. Finanzministerium. Landeschef war der jeweilige militärische Befehlshaber. Ganz im Sinne des damaligen Kolonialgedankens übernahm Österreich-Ungarn in Bosnien-Herzegowina eine „Kulturmission“. Für die am Rande des Osmanischen Reiches vernachlässigten Provinzen brachte dies eine beträchtliche Modernisierung. Die landwirtschaftliche Produktion verdreifachte sich bis 1914, die Zahl der Schulen stieg von 110 auf 595 Volksschulen sowie 21 Gymnasien und andere höhere Schulen; außer für muslimische Mädchen bestand Schulpflicht. Straßen, Telegrafenlinien und Eisenbahnen wurden massiv ausgebaut. Diese Periode brachte auch neue Erfahrungen für Österreich. Dass 1912 mit dem Islam-Gesetz erstmals in einem europäischen Land der Islam als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde, war nicht zuletzt Folge der Präsenz in Bosnien-Herzegowina.
Dennoch sollte man vorsichtig sein, diese Periode verklärt-nostalgisch zu sehen. Die stets unter Budgetnot leidende k u k derlichen Maßnahmen ohne zu große Zuschüsse durch die Einnahmen aus den Provinzen zu finanzieren. Die arme bäuerliche christliche, vor allem die orthodoxe Bevölkerung erlebte nur wenige der Verbesserungen, die sie sich von den Österreichern erhofft hatte. Dass jüngere orthodoxe Bosnier zunehmend Sympathien für das benachbarte Königreich Serbien zeigten, konnte nicht überraschen – bis hin zu Gavrilo Princip und den anderen jungen Attentätern des Juni 1914.
Ende 1881 wurde die in Österreich-Ungarn seit 1868 bestehende Wehrpflicht auf Bosnien-Herzegowina ausgedehnt. Jährlich wurden vier neue Kompanien zu 100 Mann aufgestellt. Die Dienstzeit betrug – ähnlich wie in der k. u. k. Armee – drei Jahre präsent und neun Jahre Reserve; Offiziere, Unteroffiziere und Ausbildner kamen aus der k. u. k. Armee. Entgegen der landläufigen Meinung waren nur 31,4 Prozent der bosnischen Soldaten Muslime. Fast 40 Prozent waren griechisch-orientalisch (im heutigen Verständnis: serbisch-orthodox) und 25 Prozent römisch-katholisch. Dazu kamen GriechischKatholiken, Juden (in Sarajewo gab es eine bedeutende sephardische Gemeinde) und Protestanten. Die bosnischen Truppen waren in den großen Städten stationiert: in Wien, Graz, Budapest und Triest. Damit wollte man den Soldaten die Fortschrittlichkeit der Monarchie vor Augen führen.
In Belgrad fielen am 11. Juni 1903 König Aleksandar Obrenovic´ und seine Frau einer Verschwörung zum Opfer – Drahtzieher war jener Hauptmann Dragutin „Apis“Dimitrijevic,´ der mehr als zehn Jahre später hinter dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand stecken sollte. In der Folge schwenkte Serbien von einem pro-österreichischen auf einen pro-russischen Kurs. Noch bemühten sich Österreich-Ungarn und Russland um ein gemeinsames Vorgehen – so einigte man sich in den „Mürzsteger Beschlüssen“von 1903 auf ein Programm zur Befriedung der Krisenregion Mazedonien. 1908 nützte Österreich-Ungarn die Schwächung des Osmanischen Reiches durch die jungtürkische Revolution, um Bosnien und die Herzegowina, die ja formal noch zum Osmanischen Reich gehörten, zu annektieren. Allerdings scheiterte die dafür versprochene Unterstützung der russischen Ambitionen auf die freie Durchfahrt durch die Dardanellen am britischen Einspruch. Russland, aber auch die anderen europäischen Großmächte und das Osmanische Reich waren brüskiert, Österreich-Ungarn international isoliert.
Real änderte sich durch die Annexion wenig. Die Verwaltung blieb beim gemeinsamen Finanzministerium. 1910 verkündete Franz Joseph I ein Landesstatut mit einer chische noch ungarische, sondern bosnische Landesbürger. Noch 1910 besuchte der Kaiser selbst seine neuen Länder.
Die Jahre nach 1908 brachten eine weitere Schwächung des Osmanischen Reiches. Bulgarien schüttelte die osmanische Oberhoheit ab, während Griechenland den Anschluss der Insel Kreta vollzog. 1911/12 eroberte Italien Libyen und die Inselgruppe des Dodekanes. In den beiden Balkankriegen 1912/13 eroberten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland große Teile der verbliebenen osmanischen Besitzungen in Europa. Österreich-Ungarn erzwang auf dem diplomatischen Parkett die Schaffung Albaniens als eigenen Staat. Die europäische Friedensoperation in Albanien sollte allerdings das letzte gemeinsame Agieren des „Europäischen Konzerts“vor dem Ersten Weltkrieg werden.
1918 endete mit dem Zerfall der Donaumonarchie auch die österreichisch-ungarische Zeit Bosniens und der Herzegowina. Das Land wurde Teil des südslawischen „Staates der Serben, Kroaten und Slowenen“(SHS Staat) ab 1928 offiziell Jugosla
Qrespektive Teil des kroatischen UstaschaStaates, wurde Bosnien zum Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Partisanen unterschiedlicher Richtung und den Besatzungstruppen. Nach 1945 eine der sechs Teilrepubliken der Volksrepublik Jugoslawien, folgte Bosnien-Herzegowina 1991/92 dem Vorbild Sloweniens und Kroatiens und erklärte sich für unabhängig, während Kroatien und Serbien eine Aufteilung anstrebten. Erst 1995 beendeten Friedensabkommen den von allen Seiten grausam geführten Krieg. Die internationale militärische Präsenz – seit 2003 unter Führung der EU – ist inzwischen nur noch symbolisch, auf den ersten Blick bietet Sarajewo heute wieder das faszinierende Bild einer friedlichen, multikulturellen Gesellschaft. Doch erschweren das komplizierte politische System, Korruption und organisierte Kriminalität eine Konsolidierung. Dazu kommen islamistische Einflüsse aus unterschiedlichen Richtungen, von der Türkei über Saudi-Arabien bis zum Iran.
Immerhin: Österreich und BosnienHerzegowina kamen einander in diesen Jahren wieder näher – zahlreiche Bosnier flohen in den 1990er-Jahren nach Österreich, rot-weiß-rote Firmen sind heute im ganzen Land präsent.
Aus österreichischer Sicht gilt die 40-jährige Herrschaft in Bosnien-Herzegowina weitgehend als – nostalgisch verklärte – Erfolgsgeschichte: Schulen und Bahnen wurden gebaut, das Land wurde erschlossen. Die Sicht mancher Bosnier ist differenzierter. Da kann der rot-weiß-rote Besucher schon hören: „Es ist gut, dass ihr da wart, aber auch, dass Ihr nicht mehr da seid!“
Viele muslimische Bosniaken sehen als ihre Tradition die Zugehörigkeit zu einem muslimischen Reich, das sie gegen die christlichen Eroberer zu verteidigen halfen. Für die Christen hingegen brachte das Ende der osmanischen Herrschaft eine Befreiung – und je nach Religion eine Orientierung nach Serbien oder Kroatien.
Wir dürfen die negativen Aspekte der 40-jährigen österreichischen Geschichte Bosniens und der Herzegowina nicht ignorieren. Ebenso falsch aber wäre es, die positiven Seiten jener Jahre kleinreden zu wollen. Bis 1878 war Bosnien-Herzegowina einige Jahrhunderte lang ein Vorposten des Osmanischen Reiches auf dem Balkan gewesen. Ab 1878 drehte sich diese Funktion gewissermaßen um: Bosnien-Herzegowina wurde ein (mittel-)europäisches Land in Südosteuropa. Wenn heute über einen möglichen künftigen Beitritt zur Europäischen Union gesprochen wird, dann ist dies auch eine Konsequenz jener 40 Jahre, während der Bosnien-Herzegowina zu Österreich-Ungarn gehörte.
Erwin A. Schmidl, Jahrgang 1956, ist Historiker an der Landesverteidigungsakademie in Wien. Gemeinsam mit Christoph Neumayer gab er den Band Des Kaisers Bosnia