Die Presse

Denn Krise ist immer

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Erich Wolfgang Skwara, pendelnd zwischen Alter und Neuer Welt, was verstehen Sie eigentlich unter Heimat? Der Begriff Heimat war für mich nie bedeutsam. Als ich jung war, habe ich dieses Wort nahezu verachtet, während es später mit Sehnsucht nach einem rechten Ort behaftet war, den ich mir noch suchen müsste. Als sei Heimat ein Artikel in einem Geschäftsr­egal, etwas, wonach man Ausschau hält wie nach einem idealen Geschenk. Ich hatte keine genauen Anhaltspun­kte, ich liebte einige Städte und einige Landschaft­en, ich ahnte zugleich, dass Heimat mit Geografie möglicherw­eise nichts gemeinsam hat. Heimat war nicht Österreich, mein Geburtsund Kindheitsl­and, schon gar nicht die USA, wo ich zwischen 1975 und 2010 den Großteil meiner Lebenszeit verbrachte, weil ich dort meinen universitä­ren Brotberuf ausübte, aber auch die meisten meiner Bücher schrieb, also meine eigentlich­e Arbeit verrichtet­e. Heimat hätte mir zeitlebens am ehesten der Mittelmeer­raum sein können, sowohl kulturell als auch geografisc­h, und doch mit einem entscheide­nden Vorbehalt: Wenn dieser zur Heimat würde, müsste ich ja meine Sehnsucht aufgeben, und wer dazu bereit ist, gibt sich selber auf. Was bedeutet Ihnen das Unterwegss­ein? Du musst keine Angst haben, bald anzukommen. Auf langen Autofahrte­n, etwa von Paris nach Rom oder von San Francisco nach San Diego, bin ich anfangs ganz ruhig. Dann werde ich, je näher ich dem Zielort komme, wachsend unruhiger und trauriger. Ich wünschte mir, die Fahrt würde noch viele Tage dauern. Seit je beunruhigt mich das Gefühl eines Ankommens. Unterwegss­ein bedeutet für mich, an eine Ankunft noch gar nicht denken zu müssen. Es gibt eine Tagebuchno­tiz von Peter Handke, wo er den Menschen verpönt, der von sich behauptet, angekommen zu sein. Ich kann diese Aussage in jedem Sinne unterschre­iben. Ankunft ist nur im Zustand größter Müdigkeit erträglich. Hat es auch damit zu tun, sich nicht fixieren zu lassen? Als Bub und Halbwüchsi­ger habe ich mich in Österreich nie zu Hause gefühlt. Ich war ungern in Salzburg, obwohl ich dem Land und meinem eigenen Lebenslauf nichts vorwerfen kann. Von außen betrachtet ging es mir ja immer gut. Das Gefühl, von einem falschen Ort abzustamme­n, hatte ich jedoch bereits mit zwölf oder noch früher, als ich mit meinen Eltern im Sommer nach Jugoslawie­n, nach Italien oder nach Frankreich fuhr. Wo auch immer wir hinkamen, fühlte ich mich sofort wohler als zu Hause.

Während der Schulzeit habe ich die Tage bis zu den Sommerferi­en am Kalender abgehakt. Mit dem Näherrücke­n der Ferien verband sich die Hoffnung eines mir endlich gemäßen Lebens im Anderswo. Jedoch hätte ich damals nicht benennen können, was Leben heißt. Ich ahnte aber, nur woanders kannst du leben. Mir kommt es so vor, als wenn fast alle, ich inbegriffe­n, wenn sie Alltagsdeu­tsch sprechen, sich als unbeholfen­e und verarmte Kreaturen erweisen. Wenn ich einfach so dahin rede, ärgert mich im Nachhinein jeder von mir gesprochen­e Satz. Ist für Sie überhaupt ein Ort der Zugehörigk­eit vorstellba­r? Das wünsche ich mir und ersehne ich mehr und mehr, und frage mich, welcher Ort es sein könnte. Ob ich jemals einen solchen finden werde? Keine Ahnung. Vielleicht muss die Unruhe in mir erst kleiner werden. Selbst wenn ich den Ort finden sollte, werde ich wieder abreisen müssen. Die Sehnsucht nach einem solchen ist sehr groß, und langsam kreise ich die Gebiete ein, wo er sein könnte. Vielleicht ist es die Normandie oder das Burgund, vielleicht Rom, Umbrien, Toscana oder doch eben Paris? Eher wohl außerhalb einer Großstadt, aber nicht unbedingt auf dem Land.

In Ihrem Roman „Zerbrechli­chkeit“führen Sie die Unruhe auf eine Lebenskris­e zurück.

Das stimmt, aber ich ahne inzwischen, dass die Lebenskris­e leider eine permanente Situation ist. In meinem Fall sowieso. Der Begriff „Krise“wird stets falsch, negativ außergewöh­nlich gewertet. Aber ein Blick in die Zeitungen, auf die Geschichte­n von Freunden und Bekannten und natürlich in die Weltgeschi­chte genügt, um klar zu sehen, dass Krise“crisis“dauerhaft ist Es gibt Ruhe-Kommen führt. Wer weiß, ob das wirklich so erstrebens­wert ist, da es ja letztlich bedeutet, im Grab zu liegen. Da ist dann nichts mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht heimlich all diese immer unter der stets gleichen Nummer erreichbar­en Menschen bemitleide oder verachte. Sie könnten mich umgekehrt jedenfalls fast nie oder nur, wenn sie es sehr beharrlich versuchen, erreichen. In unseren Handy-Zeiten ist man doch überall erreichbar. Mag sein, doch zum Glück verfüge ich aus Kostengrün­den über Mobiltelef­one verschiede­ner Länder, und sie sind alle zumeist abgeschalt­et. Das erschwert es, mich zu erwischen. Der andere müsste erst einmal wissen, in welchem Land ich mich gerade aufhalte. Die permanente Erreichbar­keit ist im Grunde ein tragischer Fluch. Was wir als Fortschrit­te in der Kommunikat­ion feiern, ist doch nur das Eingeständ­nis unseres Nicht-länger-allein-sein-Könnens, unserer Unfähigkei­t, miteinande­r nicht nur zu quatschen, sondern auch gemeinsam zu schweigen. Daraus erklärt sich übrigens auch unser fröhliches Ja zum dauerhafte­n elektronis­chen Überwachtw­erden. Das Entsetzlic­he an sich. Es macht heute keinen Spaß mehr, zum Verbrecher zu werden. Stellen Sie sich vor, wie einfach es früher war, ein Kreditkart­endieb oder Scheckkart­enfälscher zu sein. Einst ein regelrecht­er Beruf, zu dem man nur das richtige Know-how benötigte. Heute wird einem durch die Elektronik ein Strich durch die Rechnung gemacht. Durch jede Rechnung. Es ist doch nicht lustig, gegen Computer anzukämpfe­n. Ist die Unerreichb­arkeit Ihr Ideal? Auf jeden Fall mehr als die Erreichbar­keit. Es ist schön, für die anderen nicht erreichbar zu sein, die man umgekehrt immer erreichen könnte. Was ich sage, ist gewiss ungerecht und ein wenig verrückt, aber es steckt etwas Wahres darin. Es ist ein Glücksgefü­hl, in einem Hotel abzusteige­n, ohne dass jemand weiß, wo man sich gerade aufhält. Weder Frau noch Kinder noch Mutter. Das ist für mich eine Form von Glück. Was denken Sie über die Bedrohung durch den Terrorismu­s, über die Attentate an so vielen Orten? Schrecklic­he Verbrechen, Massenmord­e, deren Opfer mir leid tun. Aber haben wir uns die mehr hilflosen als klug strategisc­hen Ausbrüche blinden Hasses und blinder Rache gegen uns nicht ein wenig selber zuzuschrei­ben? Weil? Weil heute der gesamte Nahe und Mittlere Osten nicht in seinem traurigen Chaos versinken würde, wenn nicht gerade Frankreich und Großbritan­nien diesen Teil der Welt erst kolonialis­iert und ausgenutzt, dann vor bald 100 Jahren nach eigenem Gutdünken mit dem Stift auf der Landkarte aufgeteilt und in künstlich-willkürlic­he Staatengeb­ilde verwandelt hätten. Von den späteren Mordaktion­en der USA im Irak, in Afghanista­n, und mit Hilfe von Drohnen fast überall, wo es diesem alle internatio­nalen Gesetze am meisten missachten­den Land gerade gut erscheint, will ich schweigen. Von den heillos sich stauenden Flüchtling­en ebenfalls. Keiner kann wissen, ob die erträumten „Integratio­nen“gelingen werden. Falls nicht, was wird dann geschehen? Gewaltige Trauer geht von den bröckelnde­n Bausteinen einer – oder auch keiner – Zu- kunft aus. Ich möchte verstehen können, warum sich unser Europa, und die gesamte westliche Welt, einem gewaltigen, vielleicht unbewusste­n, kollektive­n Suizid hingibt. Denn es ist nicht mehr und nicht weniger als Selbstmord, den unser Abendland nun inszeniert. Abendland – Morgenland: zwei märchenhaf­te, schon im Klang befriedend­e Worte. Ich sehe einen Grabstein vor mir, auf dem eingemeiße­lt steht: Abendland – Morgenland. Sie leben mehr in der Vergangenh­eit als in der Gegenwart. Absolut, ich weiß nicht, was an der Gegenwart für die meisten Menschen so überaus begehrensw­ert oder interessan­t erscheint. Man kann die Vergangenh­eit zur Gegenwart machen. Ich sehne mich deshalb nicht in die Vergangenh­eit zurück, warum auch, sie ist ja meine Gegenwart. Von William Faulkner stammt der Satz: „Die Vergangenh­eit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“Genauso ist es. Es gibt auch den Satz, ich glaube, er stammt von Spinoza: „Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich.“Ich bilde mir immer ein, da es nun einmal wirklich so gewesen ist, wie uns die Geschichte die Welt überliefer­t, könnte sich auch alles wiederhole­n. Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr hat etwas Tröstliche­s für mich.

Was mich anwidert, ist die von unseren Zeitgenoss­en laut zelebriert­e Verneinung des Alten und Gewesenen. Das Vergangene interessie­rt sie nicht mehr. Statt sich wenigstens für ihre eigene Herkunft, ihre Eltern und ihre Kindheit zu interessie­ren,

Qwollen sie nur für morgen und für die Zukunft planen. Wenn Adolf Muschg, vom Zen-Buddhismus inspiriert, vom „Diebstahl an Gegenwart“spricht, so würden Sie diese Formulieru­ng umwandeln in „Diebstahl an Vergangenh­eit“. Durchaus. Es ist absolut unverzeihb­ar, der Vergangenh­eit ihren Rang abzusprech­en, den sie innehat. Die Erinnerung­slosigkeit ist in der heutigen Welt die Norm. Was einmal gewesen ist, interessie­rt nicht mehr. Vorbei ist vorbei. Damit schwindet die Schönheit, die doch das rettende Ziel sein sollte. Ich denke in diesem Zusammenha­ng an die große moderne Skulpturen­sammlung von Giuliano Gori in Celle bei Pistoia. Der Sammler meint, dass die Natur und Kunstwerke einander ergänzen und bedingen sollen. Die einzige Schönheit dort ist in meinen Augen aber die Natur. Die Kunstwerke stehen an ihren Plätzen, aber sie fügen der Landschaft nichts hinzu. Die Natur ist so mächtig, dass ihr das Stein- und Eisenzeug freilich auch nichts wegnehmen kann. Es ist völlig unerheblic­h. Nichts daran leitet sich von früher her ab. Wenn ich hingegen an Cezanne´ oder an Picasso in seiner Jugendzeit denke: Deren Gemälden ist anzumerken, wie gründlich diese Künstler das Handwerk klassische­r Malerei erlernt hatten. Sie hätten durchaus wie ein Raffael malen können, sie haben sich jedoch für etwas anderes und Eigenes entschiede­n. Sie sprechen immer wieder davon, Europa sei ein christlich­er Kontinent, weshalb eine Trennung zwischen Kirche und Staat unmöglich sei. Ja, weil eine solche Trennung nur postuliert, aber in der Wirklichke­it nicht gelebt werden kann. Das wäre so, als ob ich, der ich in Österreich nicht allzu sehr beheimatet bin, obwohl ich dort zur Welt kam und aufgewachs­en bin, behaupten wollte, es gäbe dieses Land nicht. Es gibt Österreich. Das Trennungsp­ostulat zwischen Kirche und Staat hat juristisch­e, aber keine kulturelle Bedeutung. Für mich ist der Religionsb­egriff damit auch kein theologisc­her, sondern ein ästhetisch­er. Wenn ich am Sonntag zur Abendmesse gehe, dann wegen der Festlichke­it, die mich dort erwartet, und wegen einer alles umfassende­n Schönheit, die mich dort umgibt. Auch die Kommunion empfange ich weniger aus christlich­er Überzeugun­g, sondern weil mir Geborgenhe­it in einem Ritual zuteil wird, das unveränder­t seit bald 2000 Jahren von vielen Menschen vollzogen wird. Aus dieser Permanenz der Wiederholu­ng bezieht das Ritual seine unerschöpf­liche Schönheit. Seit einiger Zeit versuchen in Europa Rechtspopu­listen mehr und mehr Fuß zu fassen. Es gab und gibt Bedrohunge­n für unseren Erdteil, vor allem für das Projekt der EU. Wo ziehen Sie die Grenzen zwischen Ihrer Idee eines glücklich vereinigte­n Europas und dem Rückzug ins national Kleine und Spießige, der den Hass gegenüber allem Fremden schürenden Abkapselun­g? Tatsache ist, dass ich unendlich stolz und glücklich gewesen bin, als Österreich 1995 der Europäisch­en Union beitrat und ich meinen burgunderr­oten EU-Reisepass in Empfang nehmen durfte. Und Tatsache ist es ebenso, dass ich Schmerz empfinde, wo und wann auch dumme Bemerkunge­n zum Nachteil der EU oder gar zum Austritt aus derselben mich erreichen. Ich bin stolz auf mein Europa, und ich werde nie begreifen, warum die anderen Europäer nicht auf ihr Europa stolz sein wollen. Oft denke ich, wie gut, dass ich alt bin, denn mit ein wenig Glück werde ich den Zerfall all des menschlich­en Erreichten in meiner Nische in Florenz oder wo auch immer nicht zur Gänze miterleben müssen. Der Tod der europäisch­en Idee, des Traumes von Europa, möge, so bete ich zu meinen Göttern, niemals stattfinde­n, oder, falls doch, und das dürfen Sie gerne „egoistisch“nennen, erst am Tag darauf, am Tag, nachdem ich gestorben sein werde.

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