Die Presse

Plötzlich wie vom Erdboden verschluck­t

Durchkompo­niert: Maike Wetzels Roman „Elly“über das Verschwind­en eines Mädchens.

- Von Susanne Schaber

Elly. Ein kurzer Name. Er endet mit dem vorletzten Buchstaben des Alphabets. Und vielleicht ist das ein Statement: Eine Geschichte ist nie vollends zu Ende, irgendetwa­s kommt noch. Maike Wetzel überlässt nichts dem Zufall, ihr Roman „Elly“ist durchkompo­niert bis in kleinste Details. Sein Konzept wurde schon im Vorfeld mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeich­net, nun liegt das Buch vor: ein irritieren­des, wenngleich etwas kokettes Stück Literatur.

„Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus.“Weil sie nicht fassbar ist. Das Geschehen, das um die solcherart beschworen­en Ereignisse kreist, ist tragisch: Elly ist elf und ein selbstbewu­sstes Mädchen, als sie mit dem Fahrrad zum Judounterr­icht aufbricht. Sie kennt den Weg über die Felder und die Autobahnbr­ücke. Kurz vor der Sporthalle, eine Polizeista­tion ist in der Nähe, wird sie zum letzten Mal gesehen. „In ihrem Kinderzimm­er fehlt nichts. Keine Hose, kein Rock, keine Zahnbürste. Es gibt keinen Abschiedsb­rief. Auch später erhalten wir keine Nachricht. Meine Schwester Elly ist wie vom Erdboden verschluck­t.“

Maike Wetzel hat Regie an der Münchner Filmhochsc­hule studiert und realisiert­e als Regisseuri­n und Drehbuchau­torin mehrere Kurzfilme. Hier setzt sie sich den Folgen eines von Kriminalbe­amten nie aufgeklärt­en Verschwind­ens auf die Spur. Ein Stakkato von einfachen, abgehackte­n Sätzen imaginiert die Schläge, die Eltern und Schwester hart treffen. Ängste wuchern, zugleich entfalten sich ins Irrational­e ragende Hoffnungss­zenarien. Jede der Figuren hat ihre eigene Methode, den quälenden Unsicherhe­iten zu begegnen: Das reicht von Beschwörun­gsfantasie­n bis hin zur wahnhaften Leugnung der Wirklichke­it. „Meine Schwester ist tot. Ich traue mich kaum, das zu denken, weil ich weiß, dass mein Glaube genügt, um sie umzubringe­n.“

Fassade familiärer Harmonie

Wetzel beschreibt die Familie aus verschiede­nen Perspektiv­en. Im Zusammensp­iel der Stimmen zeigt sich die Verzweiflu­ng immer drängender. Entspreche­nd groß sind die Projektion­en, als die Meldung einläuft, ein junges Mädchen sei gefunden worden, die dem Profil der Vermissten entspricht. Damit spitzt sich der Realitätsv­erlust gefährlich zu. Gleichzeit­ig offenbart sich, wie die Fassade der familiären Harmonie schon Jahre vorher zu bröckeln begonnen hat.

„Elly“ist ein flirrendes literarisc­hes Gebilde, rhythmisch und dramaturgi­sch durchgesta­ltet und sprachlich fast schon überambiti­oniert mit seinen recht gesuchten Bildern und Wendungen: „Doch irgendwann ist meine Schwester keine Nachricht mehr. Sie hat sich versendet.“Da ist mancher Manierismu­s mit dabei.

Die Geschehnis­se treiben auf ein furioses und darin geradezu kurioses Finale a` la Psychothri­ller zu. Ob dieses glaubwürdi­g oder doch überspannt ist, hat in diesem Fall keine übermäßige Bedeutung. Denn eigentlich geht es der Autorin um etwas anderes: Ihr Roman ist ein subtiles Dokument über die subversive Kraft des Erzählens und der Imaginatio­n und über deren befreiende­r, aber auch fataler Dynamik. „Elly“wird zum Psychogram­m einer Verweigeru­ng, in mehrfachem Sinn. Das Buch verrückt uns für eine Weile den Blick.

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