Plötzlich wie vom Erdboden verschluckt
Durchkomponiert: Maike Wetzels Roman „Elly“über das Verschwinden eines Mädchens.
Elly. Ein kurzer Name. Er endet mit dem vorletzten Buchstaben des Alphabets. Und vielleicht ist das ein Statement: Eine Geschichte ist nie vollends zu Ende, irgendetwas kommt noch. Maike Wetzel überlässt nichts dem Zufall, ihr Roman „Elly“ist durchkomponiert bis in kleinste Details. Sein Konzept wurde schon im Vorfeld mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet, nun liegt das Buch vor: ein irritierendes, wenngleich etwas kokettes Stück Literatur.
„Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus.“Weil sie nicht fassbar ist. Das Geschehen, das um die solcherart beschworenen Ereignisse kreist, ist tragisch: Elly ist elf und ein selbstbewusstes Mädchen, als sie mit dem Fahrrad zum Judounterricht aufbricht. Sie kennt den Weg über die Felder und die Autobahnbrücke. Kurz vor der Sporthalle, eine Polizeistation ist in der Nähe, wird sie zum letzten Mal gesehen. „In ihrem Kinderzimmer fehlt nichts. Keine Hose, kein Rock, keine Zahnbürste. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Auch später erhalten wir keine Nachricht. Meine Schwester Elly ist wie vom Erdboden verschluckt.“
Maike Wetzel hat Regie an der Münchner Filmhochschule studiert und realisierte als Regisseurin und Drehbuchautorin mehrere Kurzfilme. Hier setzt sie sich den Folgen eines von Kriminalbeamten nie aufgeklärten Verschwindens auf die Spur. Ein Stakkato von einfachen, abgehackten Sätzen imaginiert die Schläge, die Eltern und Schwester hart treffen. Ängste wuchern, zugleich entfalten sich ins Irrationale ragende Hoffnungsszenarien. Jede der Figuren hat ihre eigene Methode, den quälenden Unsicherheiten zu begegnen: Das reicht von Beschwörungsfantasien bis hin zur wahnhaften Leugnung der Wirklichkeit. „Meine Schwester ist tot. Ich traue mich kaum, das zu denken, weil ich weiß, dass mein Glaube genügt, um sie umzubringen.“
Fassade familiärer Harmonie
Wetzel beschreibt die Familie aus verschiedenen Perspektiven. Im Zusammenspiel der Stimmen zeigt sich die Verzweiflung immer drängender. Entsprechend groß sind die Projektionen, als die Meldung einläuft, ein junges Mädchen sei gefunden worden, die dem Profil der Vermissten entspricht. Damit spitzt sich der Realitätsverlust gefährlich zu. Gleichzeitig offenbart sich, wie die Fassade der familiären Harmonie schon Jahre vorher zu bröckeln begonnen hat.
„Elly“ist ein flirrendes literarisches Gebilde, rhythmisch und dramaturgisch durchgestaltet und sprachlich fast schon überambitioniert mit seinen recht gesuchten Bildern und Wendungen: „Doch irgendwann ist meine Schwester keine Nachricht mehr. Sie hat sich versendet.“Da ist mancher Manierismus mit dabei.
Die Geschehnisse treiben auf ein furioses und darin geradezu kurioses Finale a` la Psychothriller zu. Ob dieses glaubwürdig oder doch überspannt ist, hat in diesem Fall keine übermäßige Bedeutung. Denn eigentlich geht es der Autorin um etwas anderes: Ihr Roman ist ein subtiles Dokument über die subversive Kraft des Erzählens und der Imagination und über deren befreiender, aber auch fataler Dynamik. „Elly“wird zum Psychogramm einer Verweigerung, in mehrfachem Sinn. Das Buch verrückt uns für eine Weile den Blick.