Die Magd der Literatur Spiegelbild der Abhängigkeiten
Erzählungen aus dem Nachlass: Der vierte Band der Werkausgabe von Christine Lavant macht endgültig deutlich, dass ihre Prosa kein Beiwerk der Lyrik ist, sondern in den besten Beispielen weltliterarisches Niveau hat.
Kaum einmal hat eine Werkausgabe so viel Unveröffentlichtes zutage gefördert und das Bild einer Autorin so grundlegend verändert wie die vierbändige Ausgabe von Christine Lavant, die rund um ihren 100. Geburtstag erschienen ist. Davor war sie als Verfasserin der Gedichtbände „Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“und „Der Pfauenschrei“bekannt – und das vorwiegend in Österreich und im katholischen Kontext. Erst der von Thomas Bernhard herausgegebene Auswahlband hat sie auch in Deutschland bekannt gemacht.
Der erste Band der Werkausgabe präsentiert Gedichte, die sie noch zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Der fast ebenso umfangreiche dritte Band versammelt die Lyrik aus dem Nachlass und zeigt, dass Christine Lavant wichtige Gedichte zurückgehalten hat, weil sie ihr zu intim und privat waren, lässt aber auch deutlich werden, dass die drei Gedichtbände im Otto Müller Verlag auf katholisch „getrimmt“waren – das heißt, dass bei der endgültigen Auswahl vor allem solche Gedichte ausgeschlossen wurden, die mit der christlichen Bildwelt nicht kompatibel sind. Die umfangreichen Herausgebernachworte von Doris Moser und dem 2016 aus dem Leben geschiedenen Fabjan Hafner rekonstruieren nicht nur die Entstehung der Gedichte, sondern liefern auch grundlegende Ansätze ihrer Interpretation und schälen sie aus dem katholischen Ghetto heraus.
Die Sensation ist jedoch, dass mit dieser Edition die Prosa Lavants endlich als gleichwertiger Teil ihres Werks sichtbar wird. Der fast 800 Seiten starke zweite Band zeigt, wie umfangreich die Prosa ist, die zwar zu Lebzeiten der Autorin veröffentlicht wurde, aber mit Ausnahme der Neuauflage von „Das Kind“nie die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. Eine Ursache dafür mag sein, dass man Frauen Prosa weniger zugetraut hat, während sie für Lyrik geradezu „zuständig“waren (man denke nur an die unqualifizierte Polemik Marcel Reich-Ranickis gegen Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“).
Ein weiterer Grund liegt bei Lavants erstem deutschen Verlag, der zu klein war, um ihre Prosa durchzusetzen. Eine wesentliche Ursache benennt das Nachwort von Klaus Amann, dem Motor der Werkausgabe: Nach der Lüftung ihres Pseudonyms (Lavants Familienname war Thonhauser beziehungsweise nach der Eheschließung Habernig) und einigen schlechten Erfahrungen verlagerte Lavant Anfang der 1950er-Jahre ihr Schreiben „ganz auf die Lyrik, wo sich das Autobiografische besser kaschieren ließ“. Mit dem vierten Band liegt die Werkausgabe nun abgeschlossen vor, und die Erzählungen aus dem Nachlass machen endgültig deutlich, dass Lavants Prosa kein Beiwerk ihrer Lyrik ist, sondern in den besten Beispielen weltliterarisches Niveau haben.
Sicher trifft das auf die beiden Werke zu, die auch als Einzelausgaben vorliegen: die Erzählung „Das Wechselbälgchen“, mit der die Edition der Werke Lavants bei Wallstein 2012 begonnen hat, und die „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“; die Nachworte von Amann sind für die Interpretation dieser Werke unerlässlich, weshalb es sich lohnt, diese Einzelausgaben anzuschaffen, auch wenn die Texte in der Gesamtausgabe enthalten sind. Amann hebt die autobiografische Basis von Lavants Schreiben hervor – „Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben“, hat sie einmal konstatiert und damit eine Fiktion gemeint, die nichts mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu tun hätte. Aber gerade die „Aufzeichnungen“machen auch deutlich, wie Lavant elf Jahre nach ihrem eigenen Aufenthalt in der Nervenklinik durch den Kunstgriff der fiktiven Tagebuchschreiberin das Erlebte in atemberaubender Dichte zu einem modellhaften Spiegelbild der Abhängigkeiten und Herrschaftsverhältnisse macht, die sich in der geschlossenen Anstalt gar nicht so sehr von denen „draußen“unterscheiden. Aus dem „Wechselbälgchen“liest Amann das bestürzende Modell einer Leibeigenschaft, in dem die Magd, die vom Bauern geschwängert und dann zu einem Sprung aus großer Höhe gezwungen wird, um einen Abortus auszulösen, und dabei ihr Auge verliert, dem Bauern auch noch dankbar sein muss, dass er ihr ein Glasauge bezahlt, bevor er sie vom Hof jagt.
So brutal klingt eine Lavant-Erzählung, wenn man ihren Inhalt zusammenfasst – und damit Struktur und Wirkung dieser einzigartigen Prosa völlig verfälscht. Denn Lavant versteht sich auf die „Seiteneinstiege“in die Gehäuse der verzweifelten Ausweglosigkeiten und brutalen Abhängigkeiten Wie man begreift, dass da eine Frau am Werk ist, die geheim Abtreibungen durchführt. Und von der Beziehung zu ihrem halbwüchsigen Sohn heißt es dann: „Sie bekam, wenn sie bös wurde, immer Kopfschmerzen und musste ihn dann manchmal schlagen.“Mit Recht insistiert Amann in seiner Interpretation auf der Grammatik dieses Satzes, die die Gefangenschaft in den Lebensverhältnissen auf den Punkt bringt.
Diese Erzählung ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr sich Lavant in immer neuen Variationen auf die Innensicht der Kinder versteht, auf ihr Erleben der Erwachsenenwelt und auf die subtilen Übergänge zwischen beiden in der Pubertät. In der Erzählung „Freundinnen“setzt sie den brennenden Schmerz zweier Mädchen in Szene, deren rettende Freundschaft vom Lehrer und einer Pflegemutter zur Wahrung sozialer Hierarchien brutal zerstört wird. Das alles spielt sich in einer Welt brutaler Armut ab, in der die „Bauernteufel“gefürchtet sind und – wie in der Erzählung „Natternkrönlein“– nur der Vater ein eigenes Bett hat.
Ein Kernstück dieser Erzählungen sind die unvergleichlichen Dialoge, in denen alle Register von archaisch-märchenhaftem Geraune über Einsprengsel eines intakten oder auch durch Anpassung zerstörten Dialekts gezogen werden und sich die Brutalität auf leisen Sohlen anschleicht, um dann unvermittelt zuzuschlagen. In der gesprochenen Sprache wie in der Kinderperspektive (vor allem in der des kranken und verspotteten Kindes) ist immer wieder die unverhüllt autobiografische Basis von Christine Lavants Schreiben präsent, aber zur großen Prosaschriftstellerin wird sie gerade dadurch, wie sie diese Erfahrungen auf verschiedene Texte „verteilt“, immer wieder unterschiedlich aufrollt und sie mit Handlungssträngen überkreuzt, die davon weit entfernt sind.
Diese Erzählungen aus dem Nachlass sind keineswegs nur eine Pflichtlektüre für Lavant-Kenner oder literaturgeschichtlich Interessierte. Hier öffnet sich ein brodelnder Prosastrom, der irritiert, den Atem stocken lässt und immer wieder die Augen für geschundene Menschen vor allem Kinder öff