Im Wartesaal der Mörder
Im Zugcoupe´ durch Feindesland: Nach den Novemberpogromen flieht Ulrich Alexander Bosch witz kreuz und quer durch das Hitlerreich – und schreibt den Roman „Der Reisende“. Peter Graf hat das Buch nach 80 Jahren wiederentdeckt und herausgegeben.
Selten genug erreicht eine Flaschenpost ihr Ziel. Umso kostbarer, wenn diese Flaschenpost sich als das Romantyposkript eines jungen Autors herausstellt, der im Zweiten Weltkrieg auf der Überfahrt von Australien nach England mit einem britischen Passagierschiff untergegangen ist. Die M. V. Abosso hatte 392 Reisende und Besatzungsmitglieder an Bord, als sie im Oktober 1942 nach Torpedoangriffen eines deutschen U-Boots nordwestlich der Azoren sank. 361 Menschen starben, darunter auch der deutsche Flüchtling Ulrich Alexander Boschwitz, der, daheim als Halbjude verfolgt, als Internierter der Briten aus einem Lager in Australien nach Liverpool überstellt werden sollte. Am Körper trug der 27-Jährige die Korrekturfassung seines dritten Romans, „Der Reisende“, der, sofort nach den Novemberpogromen 1938 in Deutschland und Österreich verfasst, unter dem Pseudonym John Grane 1939 in englischer Übersetzung erschien.
Boschwitz war sich der Gefahren der Überfahrt bewusst. Vor seiner Abreise teilte er seiner Mutter mitgeteilt: „Wenn Dich dieser Brief erreicht, dann weißt Du, warum. Ich bin das Risiko eingegangen und habe es nicht geschafft.“Dann setzte er die Mutter davon in Kenntnis, dass eine erste Korrekturfassung des Romans an sie unterwegs sei und er selbst den Rest der Überarbeitung bei sich habe. Keines dieser Manuskripte hat je das Ziel erreicht.
Nomadendasein in Zügen
Weshalb der Roman nun doch, nach 80 Jahren, als literarische Flaschenpost den Weg zu deutschsprachigen Lesern gefunden hat, ist dem findigen Herausgeber Peter Graf zu verdanken. Er spürte das Originaltyposkript im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt auf und sah sich berechtigt, im Sinn des Autors die nötigen Korrekturen vorzunehmen. Das Ergebnis ist eine Rarität: „Der Reisende“bildet erstmals in der deutschen Literatur in Romanform die unmittelbare Reaktion eines betroffenen Juden auf die Stimmung in Deutschland nach der „Reichskristallnacht“ab. Das Erstaunliche: Boschwitz hat Deutschland bereits 1935 verlassen, war über Schweden, Norwegen, Frankreich, Luxemburg und Belgien nach England geflohen, wo man ihn als „Enemy Alien“nach Australien abschob.
Hauptfigur des schmalen Erzählwerks ist der jüdische Großkaufmann Otto Silbermann aus Berlin. Dem wohlhabenden Ladenbesitzer, der bisher auf sein bürgerliches Ansehen und seine Ehrbarkeit vertrauen konnte, wird im November 1938 innerhalb von wenigen Tagen der Boden seiner sozialen Existenz unter den Füßen weggezogen. Seine Hoffnung, dass er als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs unangetastet bliebe, wird umgehend erschüttert. Im Handumdrehen wird er zum Paria gemacht. So verliert er in kürzester Zeit alles: seine Firma, sein Vermögen, seine Wohnung. Entrechtung, Enteignung, Verfolgung sind die Abwärtsstufen der Ausgrenzung und Entmenschlichung.
Als Otto Silbermann die Nazi-Häscher im Stiegenhaus hört, vermag er gerade noch durch die Hintertür seiner Wohnung zu entkommen. Überall werden die Juden verhaftet. Noch hat er einen Vorteil: Er sieht ganz und gar nicht aus wie ein Jude. Die hinterhältigen Gemeinheiten und judenfeindlichen Aussprüche aus dem Mund ressentimentgeladener Kleinbürger dringen an sein Ohr, ohne dass er erkannt wird.
Deshalb sucht er seine Zuflucht in Zügen. Hier fühlt er sich sicherer als auf der Straße. Atemlos wechselt der Geschäftsmann aus Berlin die Verbindungen, reist landauf, landab, kreuz und quer durch das verhetzte Hitlerreich, selbst gehetzt auf verzweifelter Flucht: „Ich muss mich wundern, dachte er, wieso ich überhaupt noch lebe. An schlechtes Gedächtnis glaube ich nun nicht mehr. Aber vielleicht will man uns erst sorgsam entkleiden und dann totschlagen, damit die Kleider nicht blutig und unsere Banknoten nicht beschädigt werden, heutzutage mordet man wirtschaftlich.“Sein Nomadendasein führt Silbermann von einem Bahnhof in den nächsten. „Jedenfalls lerne ich Deutschland kennen“, tröstet er sich später mit verzweifeltem Sarkasmus.
Lebensentscheidend erscheint Silbermann die Rettung jenes Geldvermögens, das ihm nach der zwangsweisen Veräußerung seines Geschäfts an den „arischen“Prokuristen Becker noch bleibt. In einer Aktentasche schleppt er den Erlös des unter räuberischen Bedingungen abgewickelten Verkaufs mit sich herum. „Geld ist geprägte Freiheit“, wusste schon Dostojewski, und für Silbermann auf seiner bangen Flucht ist es eine Freiheitsfrist, die Tag für Tag kleiner wird. Der im ganzen Land grassierenden Pogromstimmung begegnet er im D-Zug nicht durchgängig, er wird auch nicht als Jude erkannt. „Sie sehen doch aus wie ein Goi. Mit ihnen ist man sicher“, bestärkt ihn ein Leidensgenosse, der sich Silbermann gern anschließen möchte und seine Hoffnungen in einen dubiosen Schlepper setzt.
In einem fast filmisch ablaufenden Erzähltempo entwickelt Boschwitz viele beklemmende Einzelszenen, die sich zu einem Milieubild von barbarischer Triebentfesselung und unverhohlener Herzenskälte verdichten. Die wirklichkeitsnahe literarische Fantasie des Autors markiert umso mehr ein rätselhaftes Wunder, als der 23-Jährige seinen Roman in nur vier Wochen fern von Deutschland niedergeschrieben hat – „wie im Fieberrausch“(Peter Graf ). Die niederträchtigen Quälereien, denen die Juden nach dem 8. November 1938 ausgesetzt waren und die er seinen Protagonisten als unerträgliche Erniedrigung erleiden lässt, sind tatsachenecht dargestellt. Einverwoben wurden dabei wohl auch Nachrichten aus Wien vom März 1938, die Boschwitz im Exil in Luxemburg erreichten. Seinen Otto Silbermann lässt er klagen: „Ein Dutzend Mal haben sie auf mein Schaufenster ,Itzig‘ und ,Jude‘ geschmiert, und dann musste ich das wegwischen, und die ganze Straße sah zu.“
Wider besseres Wissen beruhigt sich Silbermann zwischendurch wieder, einzig, um für eine kurze Zeit zur Ruhe zu kommen: „Ich habe mich in eine Angst hineingedacht, für die überhaupt keine Ursache besteht.“Doch umgehend gerät er wieder in eine atembeklemmende Gefahr. Zuletzt möchte er den Diebstahl seiner mit Geld gefüllten Aktentasche in einem Polizeirevier melden und wird prompt verhaftet. Am Ende, eingesperrt mit einem Judenhetzer, verliert Silbermann ob der fortgesetzten Nachstellungen und Todesbedrohungen buchstäblich den Verstand. „Es gibt so viele Züge, so unendlich viel Züge“, stammelt er. Mit Beklemmung erkennt der Leser heute, was der Autor damals noch nicht gewusst hat: dass diese Züge direkt ins Vernichtungslager führen.
Boschwitz hat den Roman als Warnschrift verfasst. „Der Reisende“war, wiewohl auf Deutsch geschrieben, von seinem Verfasser im Exil aus naheliegenden Gründen für ausländische Leser gedacht, denen in belletristischer Form eine im Wortsinn „zugkräftige“Enthüllung des NS-Terrors nahegebracht werden sollte.