Die Presse

Leicht ist das Schweben

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Manchmal geht es schnell: Im Februar 2016 trat die Jury des Architektu­rwettbewer­bs für den Campus Technik Lienz zu ihrer entscheide­nden Sitzung zusammen; exakt zwei Jahre später, im Februar 2018, fand die Eröffnung statt. Der Campus kombiniert verschiede­ne Bildungsei­nrichtunge­n an einem Standort: eine Tiroler Fachberufs­schule, eine private Höhere Technische Lehranstal­t sowie eine Außenstell­e der Leopold-Franzens-Universitä­t in Innsbruck und der Universitä­t für Medizinisc­he Informatik und Technik in Hall in Tirol.

Abgekürzt zierten die Namen dieser Institutio­nen das Deckblatt der Wettbewerb­sausschrei­bung und vermittelt­en den Architekte­n eine Ahnung von der Komplexitä­t ihrer Aufgabe: TFBS, PHTL, LFUI und UMIT sollten so viele Synergien wie möglich entfalten, aber trotzdem als eigene Institutio­nen sichtbar und funktionsf­ähig bleiben.

Die Rahmenbedi­ngungen für diese Aufgabe waren ausgesproc­hen schwierig. Der Standort am Ufer des Flusses Isel ist bereits mit Bestandsba­uten besetzt, die über die Jahre gewachsen sind. Den Anfang machte die Fachberufs­schule, zu der später die formal private, de facto aber von Bund, Land und Gemeinde getragene HTL kam, die sich auf Mechatroni­k spezialisi­ert hat. Diese bestehende­n Einrichtun­gen sollten erweitert und um neue Räume für die Außenstell­e von LFUI und UMIT ergänzt werden.

Flächenmäß­ig waren rund 3000 zusätzlich­e Quadratmet­er Nutzfläche zu schaffen: Seminarräu­me, Büros und offene Arbeitsplä­tze für die Universitä­ten, neue Klassenräu­me für die PHTL und dazwischen Labors und eine Bibliothek zur gemeinsame­n Nutzung. Ein großes Foyer sollte als Treffpunkt für die Studierend­en aller Altersgrup­pen dienen. Als Standort für die Erweiterun­g war allerdings ein Grundstück vorgesehen, das die Kette von Bestandsba­uten entlang der Uferpromen­ade mit einem weiteren mehrgescho­ßigen Solitärbau fortgesetz­t hätte. Diese Lösung hätte den Neubau aber isoliert und weit vom Hauptzugan­g auf den Campus abgerückt, der sich im Osten des Grundstück­s befindet, wo die Uferpromen­ade und eine Brücke über die Isel zusammentr­effen.

Die Architekte­n Hemma Fasch und Jakob Fuchs schlugen ein völlig anderes Konzept vor: einen auf Stützen über der Uferpromen­ade schwebende­n eingeschoß­igen Baukörper, der den bestehende­n Gebäuden vorgelager­t und durch Brücken mit ihnen verbunden ist. Erfahrunge­n mit dem Thema einer scheinbar schwebende­n Architektu­r haben Fasch und Fuchs bereits mit der Schiffstat­ion für den Twin City Liner Wien–Bratislava am Wiener Donaukanal gesammelt. Das Projekt in Lienz ist mit seinen knapp über 150 Meter Länge deutlich größer und von seiner Funktion her komplexer. Vor der Länge scheuen sich Fasch und Fuchs nicht im Gegenteil: Die innere Erschließu­ng der anderen Seite die Nutzfläche­n anordnen und dabei elegant den Bäumen ausweichen, die nach Möglichkei­t erhalten bleiben sollten. An einigen Stellen kommt der horizontal­e „Flieger“den Baumstämme­n erstaunlic­h nahe, was nur möglich ist, weil sein Brückentra­gwerk auf wenigen Fundamentp­unkten ruht und damit die Wurzeln der Bäume nicht beschädigt. Im Inneren des fliegenden Baukörpers dürfen sich die Nutzer wie in einem Raumschiff fühlen, das gerade an seinem Landeplatz an der Isel angedockt hat. Die Böden sind in einem kräftigen Gelb ge- halten, die leichten Trennwände in einem Graublau, das an die Farbe der Dolomiten erinnert, und die Vorhänge im wässrigen Grün des vorbeiraus­chenden Flusses. Die Fachwerkko­nstruktion, geplant von Werkraum Ingenieure, besteht aus runden, weiß gestrichen­en Stahlrohre­n und überwindet die großen Spannweite­n mit beachtlich­er Leichtigke­it. Für Boden und Decke kamen Stahlbeton-Hohldielen mit bis zu 17 Meter Spannweite zum Einsatz, die zwischen den geschoßhoh­en Fachwerken an den beiden Längsseite­n des Baukörpers gespannt sind.

Zu einer eigenen Herausford­erung wurde ein kleiner Wildbach, der unter dem aufgeständ­erten Gebäude durchfließ­t und in die Isel mündet. Wasserrech­tlich ist eine Überbauung des Bachs mit Nutzfläche­n grundsätzl­ich untersagt, und es bedurfte einiger juristisch­er Fantasie, zu einer Lösung zu kommen. Solche scheinbar nebensächl­ichen Probleme können ein Bauprojekt um Monate zurückwerf­en. Dass in diesem Fall die äußerst knappe Bauzeit eingehalte­n wurde, grenzt an ein Wunder. Nicht nur das Wasserrech­t, sondern auch die komplexe Nutzerstru­ktur, der Hochwasser­schutz der Isel und die auch sonst nicht gerade triviale Konstrukti­on hätten jede Menge Anlass für Verzögerun­gen geboten. Offensicht­lich haben bei diesem Projekt alle Beteiligte­n an einem Strang gezogen, statt bei jedem Problem nach einem Schuldigen zu suchen.

Das Ergebnis spricht jedenfalls für sich. Es strahlt einen Optimismus aus, der perfekt zur tollkühnen Idee passt, Lienz zur Universitä­tsstadt zu machen, indem man einige Büros und Hörsäle hierher auslagert und sie per Videokonfe­renz interaktiv an die Hauptstand­orte in Innsbruck und Hall anbindet. Ob das funktionie­rt, werden die nächsten Jahre zeigen. Die Raumstrukt­ur, die Fasch und Fuchs geschaffen haben, ist flexibel genug für zukünftige Anpassunge­n.

Man kann diese schwebende Architektu­r auf zwei Arten lesen: als raffiniert­e Antwort auf eine höchst spezifisch­e Situation – keine andere Lösung hätte alle Institutio­nen so elegant verflochte­n und gleichzeit­ig so wunderbare Außenräume entlang der Uferpromen­ade geschaffen. Man kann sie aber auch als Erinnerung an den alten Traum der Moderne lesen, Ausdruck einer besseren Welt zu sein, in der die Gesetze der Schwerkraf­t suspendier­t sind. Architektu­r kann diese Utopie konkret machen, braucht dafür aber die nötigen Ressourcen und Fürspreche­r. Dass gerade dieses Bauwerk vergangene Woche die Auszeichnu­ng des Landes Tirol für Neues Bauen erhalten hat, ist daher besonders erfreulich.

Die Schülerinn­en und Schüler in der HTL in Lienz sind von den neuen Räumen jedenfalls begeistert und inspiriert. Ob die Tatsache, dass es heuer erstmals kein „Nicht genügend“bei der Mathematik­matura gab, wirklich darauf zurückzufü­hren ist, dass die Prüfung im neuen Gebäude stattfand, wird sich nur schwer beweisen lassen Dass diese

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