Augen auf und durch
Saigon. Wolkenkratzer, Fast-Food-Ketten und Jugendliche mit pink gefärbten Haaren. Im geschichtsträchtigen Saigon, Vietnams größter Stadt im Süden, sind das rasend schnelle Wachstum und der gesellschaftliche Wandel des südostasiatischen Landes besonders g
Ich bin nahe daran, mir ein Taxi zu nehmen, nur um auf die andere Seite der Straße zu gelangen“, schnauft ein Tourist, den wir an einer Kreuzung treffen. Tausende von Mopeds knattern an uns vorbei wie ein Hornissenschwarm, anscheinend in alle Richtungen gleichzeitig.
Über uns ragen die modernen Glaspaläste und Hochhäuser von Ho-Chi-MinhStadt, der Metropole im Süden Vietnams. Etwa sieben Millionen einspurige Fahrzeuge sind in der Stadt gemeldet, die früher Saigon hieß und meist immer noch so genannt wird. Hinzu kommen etwa 600.000 Autos und Lastwagen – und jeden Tag werden im Schnitt 139 neue Autos in der Stadt registriert.
Wie kommt man hier bloß lebend über die Straße? „Augen auf und durch“, lautet Ralf Dittkos Strategie für Anfänger im Verkehrstsunami, der zu Stoßzeiten oft auch über die Bürgersteige quillt. „Und notfalls klatschen oder ,Hallo‘ rufen“– falls einer der Mopedfahrer nicht aufpasst, weil er gerade damit beschäftigt ist, während der Fahrt eine SMS zu schreiben. Dittko aus Deutschland, der private Touren durch die Stadt führt, lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Saigon, spricht fließend Vietnamesisch und kennt die Stadt noch aus viel beschaulicheren Zeiten.
Heute ist Saigon die Großstadt der Wolkenkratzer, des Wachstums, der Banken und des Big Business. Die Stadt pulsiert im Hier und Heute und im Jetzt-Sofort, blickt nach vorn und nicht zurück, auferstanden aus der Asche des Krieges. Saigon ist Tag und Nacht ruhelos, blinkend, schnell und groß. „Saigon ist aber auch die Stadt der Kontraste, mehr noch als die Hauptstadt, Hanoi“, sagt Dittko.
Wer nur wenig Zeit in der Stadt verbringe, könne sich auf das Stadtzentrum, die Distrikte eins und drei, beschränken. „Das meiste historisch Interessante und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten befinden sich hier, und das Zentrum ist vielseitig.“Das schafft man sogar zu Fuß, denn nach dem ersten Schock lässt sich die Straßenquerung mit etwas Mut und Entschlossenheit durchaus ohne Schaden überstehen.
Im Tao-Dan-Park zum Beispiel ist man vor dem irren Verkehr erst einmal einigermaßen sicher. Am frühen Morgen ist hier dafür anderweitig viel los: Saigoner halten sich beim FreiluftAerobic, Tai-Chi, Federballspielen oder auf Fitnessmaschinen in Form. Oder sie zeigen ihre Singvögel vor, die sie in Bambuskäfigen auf dem Motorroller von zu Hause mitgebracht haben. Solche „Gesangswettbewerbe“zum morgendlichen Kaffee sind in Vietnam ein beliebtes Alte-Männer-Hobby.
Gleich daneben befindet sich der ehemalige Präsidentenpalast von Südvietnam. Am 30. April 1975 durchbrachen nordvietnamesische Panzer seine Tore – was für den Fall von Saigon und das Ende des VietnamKriegs steht. Das modernistische 1960er- Jahre-Gebäude heißt seitdem Palast der Wiedervereinigung.
Das lohnenswerte Kriegsmuseum um die Ecke ist mit das am meisten besuchte Museum der Stadt. Ebenfalls nur einen fünfminütigen Fußmarsch vom Palast entfernt findet sich die neoromantische Backsteinkathedrale Notre Dame aus der französischen Kolonialzeit, und gleich daneben das alte Postamt.
Wir sind mittlerweile hungrig geworden und steuern den Ben-Thanh-Markt an, der etwa einen Kilometer weiter südlich liegt. In der Mitte der Halle werden an Ständen die Street-Food-Klassiker des Südens angeboten – ein guter Einstieg für Neulinge der vietnamesischen Straßenküche, alles auf engstem Raum, die Gerichte sind auch auf Englisch angeschrieben. Wir entscheiden uns für eine Schale Bun Thit Nuong, dünne Reisnudeln mit gegrilltem Schweinefleisch.
Rundherum gibt es auf dem Markt von Obst und Gemüse über Kleidung, Snacks und Souvenirs so ziemlich alles, was sich denken lässt, aber auch viel Ramsch. Wie bei allem sind hier im touristischen Zentrum die Preise etwas höher als weiter draußen, wo nur Einheimische einkaufen – man benötigt ein bisschen Verhandlungsgeschick.
Interessanter als der Markt selbst ist die Straße Le Cong Kieu weiter südlich, jenseits des großen Kreisverkehrs. Die Le Cong Kieu ist bekannt als die Antik- und Trödelstraße, eine „Zeitreise durch die Epochen“, wie Dittko es ausdrückt, wo man alles Mögliche von Vasen und Keramik über nachgebildete Cham-Figuren bis zu alten Schallplatten entdecken kann.
Etwas weiter westlich kommen wir auf der Straße Pham Ngu Lao und der Parallelstraße Bui Vien ins dröhnend laute BackpackerViertel mit den Billighotels. Viele Besucher, die keine Lust auf überteuerte Pancakes/Pizza/Pasta/Pommes und Lachgas-Ballons haben, meiden es gänzlich, und eigentlich wollten auch wir hier ganz schnell wieder weg. Doch zwischen den beiden Straßen hat sich selbst hier, in einem Labyrinth verzweigter und verwinkelter kleiner Gassen, hartnäckig ein Mikrokosmos von fast schon dörflichem, ursprünglichem Leben erhalten.
In der Gasse 241 Pham Ngu Lao verstecken sich neben kleinen Hotels Dutzende Garküchen, die von früh bis spät lokale Köstlichkeiten und Kaffee anbieten, und Quartierläden für den täglichen Gebrauch – alles zu einem Bruchteil der Touristenpreise. Hier im Gassengewirr entdecken wir ein Stück Alltagsleben, winzige Märkte, Gemüsestände und sogar einen kleinen Tempel. Auch in der Gasse 283 Pham Ngu Lao kann man gut auf die Schnelle in diese „Parallelwelt“eintauchen.
Am Ende der Backpacker-Meile Richtung Osten strebt im Hintergrund als Kontrast der Bitexco Tower in den Himmel, eine Art modernes Wahrzeichen Saigons. Aus einer seiner oberen Etagen ragt eine runde Helikopterplattform aus dem Gebäude; es sieht ein bisschen aus, als würde der Turm gerade von einer fliegenden Untertasse attackiert.
Der Bitexco Tower ist ein markanter Teil von Saigons schnell emporwachsender Skyline, und bis vor Kurzem das höchste Gebäude der Stadt. Das gefühlte Saigon im Hier und Jetzt erfasst man wohl am besten auf den Boulevards Nguyen Hue und Dong Khoi: Ein wildes Durcheinander von modernen Hochhäusern und geschichtsträchtigen Gebäuden wie dem alten Rathaus und den Hotels Rex und Palace, und direkt daneben McDonalds, Starbucks und monströse Baustellen.
Dittko führt uns in ein altes, im Zerfall begriffenes Gebäude. Im Treppenhaus bröckeln die Wände. Hier hat sich auf mehreren Etagen die junge Kreativszene Saigons eingenistet, kleine Designerläden und Cafes.´ Vom Balkon des Cafes´ The Maker blicken wir über die Nguyen-Hue-Straße, die an den Wochenenden abends in eine Fußgängerzone verwandelt wird. Drinnen sitzen die Saigoner Hipster an ihren Laptops, Tablets und Smartphones. Hier wird auch der gesellschaftliche Wandel Vietnams besonders deutlich: „Vorbei sind die Zeiten, als man die jungen Leute noch einheitlich in weißen Hemden und blauer Hose herumlaufen sah“, sagt Dittko. „Heute färben sie sich die Haare pink und sind alles andere als die braven Enkel Ho Chi Minhs.“
Dittko hat sie entstehen und wachsen sehen, die Jugendsubkultur und den steigenden Wohlstand von Saigons aufstrebender neuer Mittelschicht. Noch in den 1980er-Jahren zählte Vietnam zu den ärmsten Ländern der Welt. Seit 2011 ist die Sozialistische Republik kein Entwicklungsland mehr. Und sosehr das Nostalgikern missfallen mag – Vietnams Regierung hat sich für Saigon für eine volle Fahrt in die Zukunft entschieden, und das mit abmontierten Rückspiegeln.
Den alten Gebäuden aus der Kolonialzeit kann man buchstäblich beim Verschwinden zuschauen. In den vergangenen zwei Dekaden wurden mehr als 200 Häuser, also mehr als die Hälfte der Gebäude aus der Zeit vor 1975, ganz oder teilweise zerstört. Saigons Vergangenheit muss modernen Hochhäusern, Shoppingmalls und einer neuen Metrolinie weichen.
Und doch, noch gibt es sie, die etwas raueren, ursprünglichen Ecken und die Spuren einer bewegten Geschichte. Als Kontrastprogramm zu den klassischen Sehenswürdigkeiten und den Glaspalästen im Zentrum empfiehlt Dittko die Gassen um den Dan-Sinh-Markt, eine etwas derbere Ecke des Distrikts eins, die sich übergangslos an das Bankenviertel anschließt, und die alte Chinatown Cho Lon im Distrikt fünf mit ihren alten Pagoden, Märkten und überaus fotogenen Straßen und Gassen.
Ebenfalls weit weniger touristisch als der Ben-Thanh-Markt ist der Tan-Dinh-Markt im Distrikt drei, bei der gleichnamigen, knallig pinkfarbenen Kirche, die aussieht