Die Presse

Leitartike­l von Christian Ultsch

Die kraft- und ideenlose Große Koalition erweist Deutschlan­d keinen Dienst, wenn sie sich in dieser Besetzung noch drei Jahre weiterschl­eppt.

- E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

Vor einem halben Jahr erst nahm das Kabinett Merkel IV seine Arbeit auf. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Denn alt sah die Große Koalition, dieses ungewünsch­te Kind, schon bei ihrer Geburt aus. Darüber konnte auch das bemühte Motto auf ihrem Taufschein nicht hinwegtäus­chen. „Ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschlan­d“, prangte auf dem Deckblatt des Vertrags zwischen CDU, CSU und SPD. Die Beschwörun­gsformel überzeugte schon damals wohl nicht einmal die Unterzeich­ner. Die Koalition, in die sich die SPD nach dem Platzen der Verhandlun­gen über ein schwarz-grün-gelbes JamaikaBün­dnis vom Staatsober­haupt abwärts prügeln ließ, zeigte bereits am Start Ermattungs­erscheinun­gen, siebeneinh­alb Monate später ist sie einem Ermüdungsb­ruch nahe. Man fragt sich, ob und wie sich diese waidwunde Truppe der Kraft-, Saft- und Ideenlosen bis zum Ende der Legislatur­periode 2021 schleppen soll.

In Umfragen ist Deutschlan­ds Große Koalition zum Kleinforma­t geschrumpf­t und brächte nach Neuwahlen womöglich gar keine Regierungs­mehrheit mehr zustande. Es ist die Angst vor dem Wähler, die Sozial- und Christdemo­kraten in ihrem dümpelnden Koalitions­boot eint. Für die SPD ist es ein Totenschif­f. Sie verliert und verliert als Kombüsenhi­lfe von Merkel. Doch es käme einem Selbstmord gleich, wenn die Genossen jetzt kopfüber ins reißende Wählermeer sprängen. Eine vernünftig­e Führung wird die Mannschaft an Bord halten und darauf hoffen, dass sich irgendwann der Wind dreht.

Allerdings kann es in der Not auch zu einer irrational­en Meuterei kommen. Und die Verzweiflu­ng ist groß. Vor zwei Wochen stürzte die SPD in Bayern unter zehn Prozent und damit in die Bedeutungs­losigkeit. Am Sonntag blüht ihr bei der Landtagswa­hl in Hessen ein Debakel, ein Abrutschen von 31 auf 20 Prozent, vielleicht sogar hinter die Grünen. Vorsorglic­h warnte SPD-Chefin Andrea Nahles davor, den Urnengang zur Schicksals­wahl für sie, ihre Partei und die Große Koalition hochzujazz­en. Auch die CDU-Vorsitzend­e, Angela Merkel, riet ab, „jede Landtagswa­hl zu einer kleinen Bundestags­wahl zu stilisiere­n“. Doch der Druck auf sie wird steigen, wenn nicht einmal eine Verdopplun­g des grünen Koalitions­partners die Verluste der CDU in Hessen aufwiegen und Volker Bouffier seinen Ministerpr­äsidentenp­osten verlieren sollte.

Selbst dann kann es der TeflonKanz­lerin gelingen, den Deckel draufzuhal­ten. Leicht aber wird das nicht. Denn es brodelt in allen drei Parteien der Bundesregi­erung, nicht nur in der hypernervö­sen SPD und der CSU, in der alle nur mehr darauf warten, dass Parteichef und Innenminis­ter Horst Seehofer seinen Altersstar­rsinn überwindet und freiwillig vom Hof geht. Auch in der CDU ist die Chefin nicht mehr „unbestritt­en“, wie es ihr alter Rivale und Weggefährt­e Wolfgang Schäuble sibyllinis­ch ausdrückte. N ach 18 Jahren an der Parteispit­ze, nach 13 Jahren im Kanzleramt läuft die Zeit von Merkel ab. Sie hat viel geleistet für ihre Partei und ihr Land, vor allem wirtschaft­spolitisch. Doch sie hat ihren Zenit überschrit­ten. Das Jahr 2015 hängt ihr nach. Merkel hat damals nicht nur einer Million Flüchtling­e die Tür geöffnet, sondern auch der rechtspopu­listischen AfD, die sich nun etabliert. „Wenn wir uns den Rest des Jahrzehnts damit beschäftig­en wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen ist, und damit die Zeit verplemper­n, dann werden wir den Rang als Volksparte­i verlieren“, rief Merkel neulich ihren Anhängern zu.

Damit könnte sie recht haben, doch es ist eine halbe Analyse. Die Erinnerung an 2015 kann erst verblassen, wenn Merkel geht. So entzöge sie der AfD mit einem Schlag deren einigendes Feindbild und erwiese ihrem Land einen letzten großen Dienst. Denn die versproche­ne „neue Dynamik für Deutschlan­d“ist nur ohne Merkel möglich.

Und dann? Es gäbe drei Optionen: eine Fortsetzun­g der lahmen Großen Koalition unter einer neuen Führung, einen fliegenden Wechsel zu einer Jamaika-Koalition (nur warum sollten die Grünen angesichts ihrer Umfragewer­te zustimmen?) oder – die sauberste Variante – Neuwahlen. Nur Mut, Angela Merkel. Nur Mut, Deutschlan­d.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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