Anna Baar: Die Stadt K.
und Stränden. Die Kinder, die jetzt keine Kinder mehr sind, brechen den Krieg vom Zaun. Sie schreiben Peace auf ihre Jeans und faseln von Vietnam. Sie wünschen sich endlich auch einen Krieg, so könnten sie auch protestieren – oder richtige Helden sein und echtes Heldenblut bluten. Sie wollen auch ein Auge verlieren und ein gebrochenes Bein. Sie wollen einen Grund für ihr Leid, den man benennen und herzeigen kann. Beklagt man sich, heißt es Euch geht
es zu gut. Also lässt man das Klagen, verstummt um eines Friedens willen, der der Friede der Stärkeren ist. Euer Frieden bringt
uns noch um! Bringt uns noch um uns selbst. Vor einem Krieg würde alles klein. Selbst der Lehrer – klein. Selbst der Ulrichsberg – klein. Selbst die eigene Fremdheit – klein. Wann ist man heimatberechtigt? Wann ist man überhaupt wer? Ihr redet von Blut und Boden? Wir haben den Boden im Blut! Wir stopfen ihn uns ins verschwiegene Maul und ziehen ihn uns durch die Nase. Reicht euch das immer noch nicht?
Der Krieg ist weit in Klagenfurt, der ist schon nicht mehr wahr. Wer nicht dran glaubt, kapituliert, nimmt den Zug nach Graz oder Wien – oder er drückt sich weg.
Ene mene muh
ERSTE ABWESENHEITSNOTIZ: Du bist so nah, als wärest du nicht hier. Beinah täglich fuhr ich in den ersten Monaten meines Studiums zum Wiener Südbahnhof, um die Kärnten-Ausgabe der Kleinen Zeitung zu kaufen und seelenwund den Zügen nachzuschauen, die Richtung Süden fuhren. Kurz nachdem ich den Film Train
spotting zum ersten Mal gesehen habe, kehre ich endlich zurück. Vielleicht, um dem Verlorenen nachzuspüren, den Freunden von einst, der Zeit, da jeder Winkel der Stadt noch frische Abenteuer versprach, den Münzen, die wir aus dem Brunnen des Wörtherseemandls fischten, den zwei gefangenen Bären, oder den Musilmarzipantieren, von der Mutter im Klo entsorgt ? Und der Heimkehrer: ein bisschen wie Ewan McGregor in der berühmten Szene in Train
spotting, in der er zum Lied Born Slippy von Underworld vor einem verschissenen öffentlichen Klo knieend mit bloßen Händen und immer wieder heftig würgend in der Suppe aus eigenen und fremden Exkrementen wühlt, um die im Zuge einer Durchfallattacke ausgeschiedenen Opiumzäpfchen herauszufischen, dann aber, weil es ihm nicht glückt, kopfüber in die Klomuschel abtaucht. O, weihevolle Suche nach dem verlorenen Glück! In der Folgeeinstellung schwimmt der Junkie im kristallklaren Wasser zum Meeresgrund hinab, findet dort die Opiumzäpfchen und ballt triumphierend die Hand zur Faust, ehe er wieder emporkrault, dem schillernden Licht entgegen, wo er nach einem jähen Cut wieder aus der Klomuschel taucht.
Ich kam, sah und ging fehl, irrte zwischen Türmen, Zinnen und Arkaden, zwischen tausend brennenden Kerzen für einen verunfallten Märtyrer, zwischen leeren Schaufenstern, Topfpalmen und rostigen Litfaßsäulen, auf denen die Plakatschönheiten beim ersten Regen Masernflecken im Gesicht bekamen. Was ich suchte, war unwiederbringlich, was ich fand, nur noch Gegend: geläufig, aber unnahbar, ein Schau- und Wegschauplatz. Vielleicht war das mein Klagenfurt: das engherzige Wegsehen, wenn irgendwo ein Bettler saß, die Aufregung, wenn wieder ein neues Geschäft öffnete, das Flüchtlingeschauengehen im Herbst 2015, das Gehen in zu engen Schuhen, drei tote Dichter, die man auf die Fassade des Musilhauses gesprayt hatte, obwohl sie in Klagenfurt nicht einmal aufgemalt sein wollten. Oder die Trauer um einen Freund. Oder Applaus für ein Schweigen.
NOTIZ ZUR ABWESENHEIT: Weit haben wir’s gebracht: Wir kommen von dieser Stadt nicht mehr los, egal, wohin wir reisen.
K wie Kelim
Klagenfurt – meine Bleibe auf Zeit! Heimatstadt ohne Ankunft.
Zwischen Kulissen, Schnappschüssen und Gedenken richte ich mich notdürftig en, die von zwischen den Häusern gespannten Seilen baumeln, während aus winzigen Lautsprecherboxen exotisches Gezwitscher tönt. Da sitz ich auf meinem Teppich und warte und schnupfe ein wenig Heimatstaub und träum mir die Nebelstadt schön: Eine Stadt ohne Niedertracht! Fort, Ungeziefer namens Mensch! Die Stadt kann nichts für die Lumpen, nichts für ihre verbrecherischen Politiker, nichts für die Lasst-die-Vergangenheit-ruhen-Sager, die ihr ewiges Gestern beschwören. Sie kann nichts für die Toten, nichts für die Alten und Unheilbaren, die einst im Landeskrankenhaus von Ärzten und Pflegeschwestern als „nutzlose Fresser“zur Tötungsanstalt Hartheim geschickt oder durch vergifteten Kaffee und Giftspritzen ermordet wurden. Nichts für die vielen, vielen, denen damals im selben Krankenhaus vom Primarius Franz Palla durch Zwangssterilisation oder Zwangsabtreibung unermessliches Leid zugefügt wurde. Nichts für die Angehörigen der slowenischen Volksgruppe, die zur, wie es hieß, ethnischen Flurbereinigung, eingeschüchtert und terrorisiert und ihrer Sprache beraubt, oder gleich von ihren kleinen Keuschen geholt, ins Altreich
verbracht und dort in Konzentrations- und Arbeitslagern gequält wurden. Nichts für die beim Tunnelbau am Loibl zu Tode Geprügelten und Abgeknallten oder vom Klagenfurter Lagerarzt und späteren Oberarzt am Landeskrankenhaus durch die Benzinspritze oder sonst wie ums Leben Gebrachten. Nichts für die Angehörigen der kleinen jüdischen Gemeinde, die damals fast völlig ausgelöscht wurde. Nichts für fast zwei Millionen Jüdinnen und Juden, für deren Tod in Konzentrationslagern in Ostpolen zwei Männer aus Klagenfurt verantwortlich waren. Nichts für eine Historikerin, der nicht ein einziger dieser Toten der Rede wert war in ihrer halbstündigen Festtagsrede zur 500-jährigen Geschichte der Stadt, in der sie die Toten noch toter schwieg, vielleicht, um den Festtagsgästen die Gespenster vom Leib zu halten, die sonst aus den Gräbern kröchen, als Aufhocker oder Wiedergänger, anstatt endlich Ruhe zu geben, wie doch das eigene Gewissen längst Ruhe gibt.
Die Stadt kann nichts für ein paar heuchlerische Politiker, die, ihre Handflächen noch heiß vom stürmischen Beifall für die erlösende Rede der Historikerin, während der darauffolgenden Schriftstellerrede von ihren Ehrenplatzsesseln aufsprangen und Hals über Kopf den Festsaal flohen, weil sie sich, wohl im vorauseilenden Parteigehorsam, peinlich berührt und mitgemeint fühlten, als der Schriftsteller die Schandtaten ihrer Gesinnungsgenossen zur Sprache brachte. Die Rechten recken die Hälse. Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist. Ich möchte nicht wissen, was die alles würden, wenn sie so könnten, wie sie gern wollen. Sie haben die Heimat gepachtet. Also: Wer ihre Schande benennt, beschmutzt das eigene Nest! Seht nur: der dreckige Dichter, umringt von Saubermännern in Wichs. Schau nur, liebes Vaterland, was du uns angetan hast – unsere Ehre ist unsere Reue, unsere einzige Pflicht!
TRAUMNOTIZ / EIN TAGTRAUM: Ich sitze auf meinem Kelim und träume, dass die lebensgroße Goldene Gans über dem Hausportal am Alten Platz von ein paar großspurigen Politikern gestohlen wurde. Und wie die großspurigen Politiker wie im Märchen an ihrem Diebesgut hängen blieben, wie auch jene hängen blieben, die in helfender Absicht herbeigeeilt und mit den Politikern in Berührung gekommen waren, und schließlich auch all jene, die den an den Politikern Hängengebliebenen beisprangen, dass eine immer länger werdende Menschenkette von Helfershelfern im Gänsemarsch zur Stadt hinauszog. Auf Nimmerwiedersehen.
Klagenfurt – ich sag dich frei. Du kannst nichts für die Bücherschreiber, die den Dichter öffentlich für seine Rede schmähen, spöttisch, erbarmungslos, noch eins draufgeben als stünde er nicht schon am Pran zudrücker, die alles daransetzen, dass sich die Bilder der Massakrierten, die Peitschenund Gewehrkolbenhiebe, die Schüsse und Schreie und brennenden Scheiterhaufen und der Geruch verkohlenden Menschenfleischs nicht in ihr Heimatbild mischen. Du kannst nichts für deine armen Schlucker – und nichts für diejenigen unter uns, die es kalt lässt, dass es heute mitten in Klagenfurt immer noch eine nach dem NS-Zwangsabtreiber und Zwangssterilisator Dr. Franz Palla benannte Straße gibt, aber immer noch keine, die den Namen Fabjan Hafner trägt.
NOTIZ ZU EINEM TAGTRAUM: Ich sitze immer noch da, mitten auf dem Alten Platz, sitze auf meinem Kelim und träume, bis als Straßenkehrer getarnte Heimatschützer anrücken und alles unter den Teppich kehren, worüber einer hier besser nicht spricht. Auch all die verschwiegenen Toten. Doch unterm Teppich beginnt es zu gären, dass er abhebt, zu schweben beginnt. Die Heimatschützer bekreuzigen sich, rufen laut Es fliegt!
Es fliegt! Da purzelt alles wieder heraus, was sie geheim halten wollten: der Sack voller 10-SchillingMünzen, die ich als Stiftsgymnasiastin nach den Klavierstunden als Rückgeld vom Hunderter behalten durfte, und den ich eines Tages auf der Verkaufstheke des Musikgeschäfts Hergeth in der Burggasse leerte, um mir ein Schlagzeug zu kaufen. Der ungültig gewordene Reisepass mit dem Kinderfoto. Der liebe Freund, die Nadel im Arm. Die Schlafmohnkapseln der alten Blumenverkäuferin am Benediktinermarkt, die wohl wusste, dass sich mancher Kunde Opiumtee aus dem Grabschmuck braute. Der Liebesbrief, der sich auf halbem Weg befand, zwischen Kairo und der Klagenfurter Stadtrandsiedlung, wo sich der für immer zwanzigjährige Freund während meiner Afrikareise mit einer Überdosis Methadon aus seinem Kinderzimmer in die Ewigkeit beamte. Der Erdhügel und die Meldung im
Tagblatt. Der Führerschein, auf dem immer noch der falsche Geburtsort steht. Das ausgekotzte Marzipankrokodil. Die aus den mit rot-gelb-weißen Schleifen geschmückten Trauerkränzen gefallenen Nelkenblüten, die der Herbstwind über das Kopfsteinpflaster jagte, während der rosengeschmückte Eichensarg des von den Feierlichkeiten zum 88. Jahrestag der Kärntner Volksabstimmung heimgefahrenen Landeshauptmannes auf den Neuen Platz gebracht wurde. Der schlichte Sarg aus rohem Fichtenholz, in dem der vergiftete Freund lag. Ein Häufchen Asche hinter Gittern. Ingeborg Bachmanns einsamer Tod. Das trauerflorbehängte Brustbild des Märtyrers bei der Pilgerstätte auf dem eigens dafür angekauften Unglücksgrund, die bei Tag und Nacht leuchtenden Kerzen, die Fotos und Blumen, die Briefe mit den Treuebezeugungen und Verdächtigungen vermeintlicher Mörder. Die Straßenkreide des Lehrers, der die Schülerin fickt. Die Seelen der abgetriebenen und drogentoten Kinder. Die Gnade des Vergessens.
In meinem Traum flog ich fort. Auf meinem Teppich, auf und davon. Vielleicht zurück ins ferne Wien. Oder auf eine Insel.
Wie weltentrückt muss der Vogel sein, der den offenen Käfig nicht flieht? Manchmal denke ich an die großgewachsene, dicke Dame im Ballettkostüm, die man bis vor zwei, drei Jahren von Zeit zu Zeit die Radetzkystraße entlangtrippeln sah, das glitzernde Täschchen dicht am Körper, als fürchtete sie, noch um ihr Letztes gebracht zu werden, so, wie ich fürchte, mit dem endemischen Gedächtnisschwund angesteckt und um meine lieben Bilder gebracht zu werden, die hässlichen und die schönen.
Oft geh ich in den Kreuzberglwald. Von hier aus kann man die Stadt nicht sehen, aber man hört ihren typischen Sound: ein liebes, tröstliches Summen, manchmal ein fernes Glockengeläut, dazwischen mehrmals ein Folgetonhorn, das schnelle Rettung verspricht: Alles wird gut. Alles wird gut.
Irgendwann, ihr werdet sehen, wird man nicht mehr nach dem Grund unseres Bleibens fragen, als hielten wir die Stellung in einem längst verlorenen Krieg. Es kommen neue Kinder. Es kommt die Zeit, da die Ungerechten Gerechtigkeit lernen und die Selbstgerechten Demut
Denk ich an die Helden meiner Kindheit, fällt mir als Erster Musil ein – der Zuckerbäcker mit den schönsten Torten und Schaumrollen. Der Vater nennt es seine Momentsammlung. Ich nenne es Diaschauen. Die Gäste nennen es
Folter, aber das sagen sie nicht.