Europa ohne Angela Merkel
Ende einer Ära. Die Kanzlerin hat die EU vor dem Zerfall bewahrt, ihre Reform jedoch verhindert. Ihre Politik der kleinen Schritte ist nicht mehr zeitgemäß.
Als Angela Merkel am 1. Mai 2008 in Aachen den Karlspreis entgegennahm, sagte sie in ihrer Dankesrede unter anderem dies: „Mit dem Lissabonner Vertrag gehen über 15 Jahre Reformen nach dem Ende des Kalten Kriegs zu Ende.“Für sie und die anderen Politiker Europas ergebe sich daraus ein neuer Auftrag: „Wir sollten die Ärmel hochkrempeln und uns auf Politik konzentrieren, auf Ergebnisse und Lösungen, die über die eigene Selbstbeschäftigung hinausgehen.“
Klar lässt sie sich aus diesen Worten herauslesen, die Ungeduld der Kanzlerin mit dem trägen Räderwerk der europäischen Institutionen, den schier endlos sich dahinziehenden Grundsatzdebatten über Vertragskompetenzen, Stimmgewichte und Wortklaubereien, welche das einst so hoffnungsvoll angegangene Unterfangen der Schaffung einer Verfassung Europas im überquellenden, für den Bürger kaum verständlichen Vertrag von Lissabon versanden ließen.
Machen statt reden, arbeiten statt träumen: Die junge Kanzlerin, damals gerade im dritten Jahr ihrer ersten Amtszeit, wollte die Ärmel hochkrempeln, um sich der wirtschaftlichen Reform Europas nach deutschem Vorbild zuzuwenden.
Griechisches Trauma
Nicht einmal zwei Jahre nach Merkels nüchtern-anpackender Aachener Rede war von diesen Hoffungen kaum etwas mehr übrig. Im Herbst 2009 musste die neu ins Amt gekommene sozialistische Regierung Griechenlands gestehen, dass die von ihrer konservativen Vorgängerregierung nach Brüssel gemeldeten Budgetdaten falsch waren. Griechenland stand vor dem Staatsbankrott – und der Zusammenhalt des Euro war erstmals gefährdet. Was sagte Merkel in ihrer Karlspreisrede über die Gemeinschaftswährung? „Dass sich diese Entscheidung bewährt hat, dass sie Europa unumkehrbar gemacht hat, davon sind wir hier alle überzeugt.“
Nun schien es erstmals seit den Römischen Verträgen von 1957, dass die europäische Einigungsgeschichte eben doch umkehrbar ist. Nun schlug die wichtigste Stunde der Europapolitikerin Merkel. Mit enormer Beharrlichkeit gelang es ihr in den fünf Jahren der akuten Griechenland-Krise, als fast wöchentlich entweder aus Berlin der Ruf nach dem Hinauswurf der Griechen aus der Währungsunion ertönte oder aus Athen mit dem Austritt aus ihr gedroht wurde, den Laden Europa beisammenzuhalten. Nicht nur einmal musste sie ihren Finanzminister, Wolfgang Schäuble, im Zaum halten. Er wollte den Grexit. Merkel verhinderte ihn. Sie sollte recht behalten: Griechenlands Volkswirtschaft ist noch lang nicht so wettbewerbsfähig, dass man in Europa ruhig schlafen kann, der Schuldenberg wird vermutlich ewig weitergeschoben werden – doch die Einheit der Eurozone hielt.
War es der dauernden Befassung mit der Eurokrise geschuldet, dass Merkel dem Erstarken des Autoritarismus und der populistischen Europafeindlichkeit in Polen, Ungarn und vor allem dem Vereinigten Königreich zu wenig Aufmerksamkeit schenkte? Oder die politische und soziale Sprengkraft des Flüchtlingskrisensommers 2015 unterschätzte?
Die entpolitisierte Union
Objektiv lässt sich festhalten, dass Merkel die notwendige Reform der Union verhinderte. Ihr heutiger Finanzminister, Olaf Scholz von der SPD, kommt bei ihr nicht einmal mit dem milden Vorschlag durch, eine Europäische Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen vorzulegen. Von einem Ordnungsruf aus dem Kanzleramt in Sachen EUMigrationspolitik hört man nichts. Die beharrliche Politik der kleinen Schritte, welche Merkel auszeichnet, wirkt in diesen Zeiten des politischen Umbruchs zusehends überkommen. Merkels Nachfolger wird jenen Befund in konkrete Politik umsetzen müssen, den der niederländische Historiker Luuk van Middelaar in seinem neuen Buch festhält: „Die Brüsseler Institutionen, die Arbeitsmethoden und Denkweisen sind historisch so geschaffen worden, um die politischen Leidenschaften mit einem Netz aus Regeln zu ersticken: die Entpolitisierung.“So kann man einen Binnenmarkt bauen – aber keine der Krisen lösen, die Europa seit einem Jahrzehnt quälen.