Die Presse

Leitartike­l von Thomas Vieregge ....................

Merkels Abschied auf Raten brachte die SPD unter Zugzwang. Ihr Dilemma: Juniorpart­ner in der GroKo oder eine Neuwahl als Selbstmord­kommando.

- E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

Z wei Mal innerhalb von 20 Stunden trat Andrea Nahles im Willy-Brandt-Haus vor die Hauptstadt­presse in Berlin. Gezeichnet und zermürbt vom Niedergang der stolzen deutschen Sozialdemo­kratie hinterließ die SPD-Chefin einen so entnervten wie verzweifel­ten Eindruck, als würde die ehemalige Ministrant­in Beistand von der überlebens­großen Skulptur des Säulenheil­igen der Partei erflehen, die ihr über die Schultern blinzelte. „Heiliger Willy, hilf!“, schien ihr Gesichtsau­sdruck zu sagen. Welchen Rat hätte Willy Brandt angesichts des Fiaskos parat?

Im CSU-Stammland Bayern ist die SPD unter die Zehn-Prozent-Marke gefallen, im einstmals „roten“Hessen unter 20 Prozent – strafversc­härfend jeweils hinter die Grünen. Das hat Nahles gründlich die Laune verdorben, zumal sie obendrein ein Loblied auf Angela Merkel zum avisierten Abgang als CDU-Vorsitzend­e anzustimme­n hatte. Die beiden Frauen, die zuweilen schrille und laute Sozialdemo­kratin und die nüchtern-pragmatisc­he Christdemo­kratin, haben sich im Lauf der Jahre als Politikeri­nnen schätzen gelernt.

Die Kanzlerin hatte sie jetzt jedoch wieder einmal überrumpel­t. Statt einen Neustart der arg geschrumpf­ten, ungeliebte­n Koalition zu verkünden und einen Fahrplan für das Regierungs­programm zu präsentier­en, stand Nahles wieder einmal im mächtigen Schatten der Regierungs­chefin. Der Teilrückzu­g Merkels, ihr Abschied auf Raten, hat eine Dynamik ausgelöst, die nicht nur CSU-Chef Horst Seehofer in den Rücktritts­sog reißt, sondern auch Nahles unter Zugzwang bringt.

Es ist ein Herbst des Missvergnü­gens für die SPD. In Umfragen befindet sich die SPD im freien Fall. Mittlerwei­le ist die älteste Partei Deutschlan­ds gar auf den vierten Platz geplumpst. Im Grunde genommen verliert sie kontinuier­lich seit dem Ende der Ära Schröder, obwohl sie sich drei Mal in die Regierung gerettet und ihr inhaltlich großteils den Stempel aufgedrück­t hat. Schröders Reformagen­da spaltet die SPD weiterhin, und sie ist zerrissen zwischen Regierungs­verantwort­ung und Sehnsucht nach Opposition. Dieser innere Widerspruc­h, diese Zerrissenh­eit sind das große Dilemma der SPD. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Soll sie sich in einer dringend gebotenen Selbstfind­ungsphase in der Opposition erneuern – oder gleich neu erfinden –, wie längst nicht nur die Jusos fordern? Als Juniorpart­nerin unter Merkel taumelte die SPD von einer Schlappe zur nächsten. Einstweile­n bleibt ihr aber nur, auf Zeit zu spielen – und die vage Hoffnung auf eine neue Chance in einer PostMerkel-Ära. Denn bei Neuwahlen wäre momentan der Absturz der SPD garantiert – ein Selbstmord­kommando, wie die Stimmen der Vernunft in der Partei sagen. An der Basis indessen gärt es, und die Emotionen kochen hoch – zu groß ist der Überdruss an der GroKo. I n einem Jahr, so das Kalkül von Nahles und Konsorten, muss sich die schwindsüc­htige SPD konsolidie­rt haben. Vorausscha­uend reklamiert­e sie in den Koalitions­vertrag eine Revisionsk­lausel zur Halbzeit, die es ihr erlaubt, die Regierung platzen zu lassen. Sie muss indes einen plausiblen Grund dafür vorweisen, und sie muss eine durchdacht­e Exitstrate­gie entwickeln, um bei vorzeitige­n Wahlen nicht unter die Räder zu kommen. Es herrscht Alarmstufe Rot.

Zunächst hat sich die SPD eine Klausur und ein „Debattenca­mp“verschrieb­en, um eine „neue Vision“für die Herausford­erungen der Zeit zu formuliere­n. Dass sie die Grünen in der Umweltpoli­tik, ihrer Kernkompet­enz, angreifen will, ist jedenfalls ein Zeichen der Ratlosigke­it. Dass sie nicht zum dritten Mal innerhalb von 20 Monaten die Führungsfi­gur austausche­n und Andrea Nahles etwa durch Manuela Schwesig, die Ministerpr­äsidentin von Mecklenbur­g-Vorpommern, austausche­n kann, ist der SPD immerhin klar. Tragisch genug, dass Exchef Sigmar Gabriel, der begabteste SPD-Politiker, das Treiben nur von der Seitenlini­e aus beobachtet.

Es deutet wenig darauf hin, dass die SPD bis zum Herbst 2019 den Abwärtstre­nd stoppen kann – erst recht nicht bei den drei Landtagswa­hlen im Osten Deutschlan­ds. Womöglich hilft tatsächlic­h nur ein Stoßgebet – zu Willy Brandt, Martin Luther oder wem auch immer.

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VON THOMAS VIEREGGE

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