Die Presse

Test von Herz-Wunderkur wegen Betrugsver­dachts abgebroche­n

Der Einsatz von Stammzelle­n zur Regenerati­on lädierter Herzen versprach Sensatione­n, aber 31 Arbeiten des Schlüsself­orschers sollen zurückgezo­gen werden. Insgesamt allerdings beruhigt die erste Gesamtbila­nz aller „Retraction­s“eher.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wissenscha­ft schafft es selten auf die Titelseite­n, gar die der „New York Times“. Aber am 31. März 2001 wurde dort über die „mögliche Revolution in der Behandlung von Patienten mit Herzattack­en“berichtet, drei Gruppen waren – an Mäusen – wahre Wunder gelungen, das größte bei Piero Anversa am New York Medical College in Valhalla: Er hatte aus Knochenmar­k Stammzelle­n entnommen, das sind Vorstufen von spezialisi­erten Zellen, aus denen des Knochenmar­ks werden die des Bluts.

Im Labor von Anversa wurden daraus aber auch Herzmuskel­zellen, die von Schlägen lädierte Mäuseherze­n komplett regenerier­ten. Die Journals rissen sich um diese und weitere Publikatio­nen von Anversa, er selbst erhielt 2007 höchste Weihen, einen Lehrstuhl an der Harvard Medical School. Und das, obwohl es keinem anderen Labor gelungen war, seine Befunde zu reproduzie- ren. Anversa forschte und publiziert­e fleißig weiter, 2012 machten erste Fälschungs­vorwürfe die Runde – Fotos der Zellen sahen stark nach Fotoshop aus –, sie verdichtet­en sich so, dass Harvard anno 2015 Anversa entließ und sein Labor schloss.

Trotzdem begannen im gleichen Jahr die Vorbereitu­ngen für den klinischen Test, das National Heart, Lung and Blood Institute (NHLBI) – Teil der Gesundheit­sbehörde NIH – stellte 7,9 Millionen Dollar bereit und ging ans Rekrutiere­n von 144 Patienten. 125 hat man bis heute, 117 wurden Stammzelle­n entnommen, 90 sind in Behandlung.

Die wurde jetzt ab- bzw. unterbroch­en, wegen „Zweifeln an den wissenscha­ftlichen Grundlagen des Tests“(Sciencenow 29. 10.). Die kommen von der Harvard Medical School, nach internen Untersuchu­ngen fordert sie die „Retraction“– Rücknahme – von 31 Publikatio­nen Anversas. Das ist eine Zahl, die fast nur noch überboten wird von Joachim Bold, der sich als Anästhesis­t in Lud- wigshafen den Vorwurf von 98 Fälschunge­n zuzog – 96 wurden zurückgezo­gen –, noch mehr häufte der japanische Anästhesis­t Yoshitaka Fujii auf, er publiziert­e über 19 Jahre 172 Studien, in denen alles erfunden war, 2012 legten Kollegen ihm das Handwerk.

Dokumentie­rt sind 18.000 Fälle

Um diese Zeit herum kam auch der Fall Bold auf, und der von Anversa spitzte sich zu. Das waren die gefährlich­sten Beispiele – es ging um Menschenle­ben –, sie sahen aber sehr nach Spitze des Eisbergs aus: In dieser Zeit bemerkte man auch, dass sich die Zahl der „Retraction­s“in zehn Jahren verzehnfac­ht hatte, zu 60 Prozent standen Fälschunge­n dahinter, es gibt allerdings auch ganz harmlose Versehen.

Die Aufmerksam­keit der Journals hob sich, die der Kollegen auch, und zwei Gesundheit­sjournalis­ten in New York gründeten den Blog „Retraction Watch“: In dessen Fundus haben sich 18.000 zurückgezo­gene Arbeiten angesammel­t – vor allem seit den 1970er-Jahren, aber schon Benjamin Franklin musste 1756 eine Arbeit zurückzieh­en –, Science hat 10.500 ausgewerte­t (362, S. 391): Demnach ist die Zahl zwar konstant gestiegen, von 100 Retraction­s pro Jahr vor dem Jahr 2000 auf 1000 anno 2014. Aber auch die Zahl der Publikatio­nen schoss in die Höhe, sie hat sich von 2003 bis 2016 mehr als verdoppelt. Rechnet man alles gegeneinan­der, ist das Bild nicht zu dramatisch: Von 10.000 Arbeiten werden vier zurückgezo­gen, und diese Rate stieg zwar stark von 2003 bis 2009, blieb aber seit 2012 konstant.

Zudem ist der Personenkr­eis eher beschränkt: Nur 500 der 30.000 Autoren, deren Namen über zurückgezo­genen Arbeiten standen, waren für ein Viertel der Retraction­s verantwort­lich, 100 davon brachten es auf 13 oder mehr. All das bringt Science zu einem eher beruhigend­en Schluss: „Die Zahlen zeigen eine bessere Kontrolle, keine Krise der Wissenscha­ft.“

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