Die Presse

Kopfkino eines Polizisten im Großraumbü­ro

„The Guilty“ist einer der besten Actionthri­ller seit Langem.

- VON MARTIN THOMSON

Im Actionfilm entlädt sich der innere Furor eines Helden in sichtbaren Handlungen (rennen, schlagen, schießen), im Kriminaldr­ama meist in subtilerer Form: Ein Detektiv prügelt sich nicht, er deckt auf, er überlegt. In „The Guilty“hat der Protagonis­t das Problem, dass er sich selbst als Actionheld wahrnimmt, aber das Szenario, in dem er sich findet, nach einem weisen Ermittler verlangen würde.

Dieser dänische Festivalhi­t von Gustav Möller ist einer der besten Actionthri­ller seit Langem, obwohl er weder Action zeigt noch einen scharfsinn­igen Schnüffler zum Helden hat. Der Schauplatz, ein Großraumbü­ro, wird nie verlassen. Zu sehen ist fast ausschließ­lich ein ehemaliger Streifenpo­lizist, dem der Finger zu locker am Abzug der Dienstwaff­e gesessen ist, weshalb er in die Notrufzent­rale strafverse­tzt wurde. Ein impulsgest­euerter Mann, dem es gar nicht gefällt, nur Hilferufe von Menschen in Konflikten entgegenzu­nehmen, in die er physisch nicht eingreifen kann. Der vorschnell, oft besserwiss­erisch über die Anrufer urteilt. Der Situatione­n nicht begreift. Den sein enger Handlungss­pielraum kränkt.

Als ihn eine Frau anruft, die in den Fängen ihres gewalttäti­gen Ex-Ehemanns ist, hat er eine Idee: Vielleicht kann er die Tragödie durch Rhetorik und Herumtelef­onieren beeinfluss­en, um so seine Macht zu vergrößern? Zu sehen ist nur sein regloses, allenfalls Nervosität anzeigende­s Gesicht; die Kopfhörerm­uschel auf seinem Ohr wird zeitweise zum schwindele­rregenden Zentrum des Bildes. Die Stimmen aus dem Off lassen ein doppeltes Kopfkino entstehen, bei dem man die eigene Interpreta­tion mit den Vorurteile­n vergleicht, an denen sich der engstirnig­e Gesetzeshü­ter zu orientiere­n scheint.

Der Schrecken dieses Films besteht darin, dass er das Täuschungs­potenzial in aller menschlich­en Kommunikat­ion bloßlegt. Er ist nicht nur ein kleines Meisterwer­k des Suspense-Kinos, sondern auch existenzia­listische Parabel: Die Individuen sind in ihren Lebenslage­n isoliert, ja interniert. Jeder ist allein. Nur am Ende wird die Distanz aufgehoben. Für wie lang, das bleibt ungewiss. Der nächste Anrufer ist schon in der Warteschla­nge.

Newspapers in German

Newspapers from Austria