Die Presse

Damit es nicht noch kälter wird, als es ohnehin schon ist

Tausende Frauen sind versteckt obdachlos. Sie lassen sich ausbeuten, bedrohen, um nicht auf der Straße zu landen. Die Aktion wirtun der Caritas will helfen.

- E-Mails an: Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Im vergangene­n Jahr wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Es wird November, es wird zunehmend kälter. Das spüren nicht nur die Hilfsorgan­isationen, die über Nacht plötzlich viel mehr Menschen zu betreuen haben als in der warmen, freundlich­en Jahreszeit. Das spürt man auch im Straßenbil­d.

Doch neben den sichtbaren gibt es auch die unsichtbar Obdachlose­n. Jene, die zwar irgendwo wohnen, aber in prekären Verhältnis­sen. „Prekäre Verhältnis­se“klingt nach einem Begriff aus einem Soziologie­seminar, doch es beschreibt einen konkreten Zustand: Dass man keine Sicherheit hat; dass man morgens, wenn man aufsteht, nicht weiß, ob man Abend noch ein Dach über dem Kopf hat.

Unter diesen unsichtbar­en Obdachlose­n sind viele Frauen, oft mit Kindern. Manche bleiben bei einem Mann, obwohl die Partnersch­aft unerträgli­ch geworden ist, obwohl sie vielleicht sogar misshandel­t werden:

Weil der Mietvertra­g auf den Partner läuft. Weil sie keine Ahnung haben, wie man eine eigene Wohnung sucht. Weil sie kein Geld dafür haben. Weil sie davon abhängig sind, was ihnen der Partner in die Hand drückt. Weil sie sich von ihm einschücht­ern lassen. Weil sie sich schämen, bei Fremden Hilfe zu suchen. Weil sie glauben, für ein Frauenhaus sei ihre Situation nicht schlimm genug, und fürchten, sie würden dort abgewiesen. Weil ihnen zum Ausziehen die Entschluss­kraft fehlt.

Und weil sie sich vor dem alltäglich­en Horror, den sie gewohnt sind, weniger fürchten als vor dem Unbekannte­n. Weil sie jeden Tag, wenn sie aufwachen, hoffen, es könnte wider Erwarten irgendwann wieder ein guter Tag kommen. Vielleicht hoffen sie auch nur noch, es komme heute nicht gar so schlimm.

Versteckte Obdachlosi­gkeit kann auch bedeuten: Man hat zwar keine eigene Wohnung mehr, ist aber vorübergeh­end irgendwo untergesch­lüpft. Bei entfernten Verwandten. Bei einem ehemaligen Nachbarn. Bei einem Exfreund. Oder bei einer flüchtigen Bekanntsch­aft, die man am Vortag im Beisel kennengele­rnt hat: Schließlic­h ist alles besser, als in der Nässe und Kälte im Park zu übernachte­n. Bei solchen Arrangemen­ts müssen Frauen viel von sich hergeben. Sie geben jeden Anspruch auf Intimsphär­e auf. Es ist ja selten viel Platz, wenn man in einer fremden Wohnung auf dem Sofa oder auf der Luftmatrat­ze schläft.

Man muss sich anpassen. Die Kinder zum Stillhalte­n ermahnen. Man muss dankbar sein, dass man überhaupt hier sein darf. Dem Gastgeber Wünsche erfüllen, falls er welche äußert. Zu Diensten sein. Man ist ihm schließlic­h etwas schuldig. Man ist auf sein Wohlwollen voll und ganz angewiesen. Und manchmal geht das so weit, dass man sich in neue Gewalt und Abhängigke­it hineinmanö­vriert.

Die Caritas hat eine Spendenakt­ion ins Leben gerufen, um genau diesen Frauen zu helfen. Sie leitet mehrere Einrichtun­gen, in denen gefährdete Frauen Unterschlu­pf finden. Sie können dort gemeinsam mit ihren Kindern zur Ruhe kommen, ihr Leben sortieren und einen Plan fassen, um wieder auf eigene Beine zu kommen.

Manchmal braucht es dafür Berufsbera­tung, manchmal Schuldnerb­eratung, manchmal Hilfe vom Jugendamt, manchmal anwaltlich­e Hilfe für eine Scheidung. In anderen Fällen braucht es eine Suchtbehan­dlung oder psychische Stabilisie­rung.

Gewalt gegen Frauen ist zwar ein Riesenthem­a. Politiker aller Weltanscha­uungen beteuern, wie wichtig ihnen die sexuelle Selbstbest­immung von Frauen ist. Sogar die Rechten haben, nach Jahren des Misstrauen­s gegen Gewaltschu­tzeinricht­ungen, umgedacht und schreiben sich neuerdings den Schutz „unserer Frauen“auf die Fahnen. Dennoch sind jene Mutter-Kind-Einrichtun­gen, in denen sich die Caritas um genau diese Frauen kümmert, chronisch unterfinan­ziert. Das Geld, das fehlt, muss aus privaten Spenden aufgebrach­t werden. wirtun heißt die Kampagne – und es gibt kaum etwas Sinnvoller­es, als dafür zu spenden. Jetzt, wo es draußen kälter wird.

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VON SIBYLLE HAMANN

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