An der Frontlinie in der Ukraine
Ostukraine. Die Sicherheitslage im Städtchen Awdijiwka unmittelbar an der Frontlinie hat sich leicht verbessert. Geschäfte öffnen und Initiativen bringen frischen Wind in die geschundene Ansiedlung. „Das Leben geht weiter“, heißt es hier.
„Das Leben geht weiter“, heißt es in Awdijiwka in der Ostukraine, berichtet Jutta Sommerbauer.
Awdijiwka. Noch sind es Kleinigkeiten, an denen sichtbar wird, dass die Dinge in Awdijiwka sich verändern: Da sind die jungen Frauen, die Kinderwagen nach Einbruch der Dunkelheit auf der Uliza Zentralnaja entlangschieben. Da ist die hell erleuchtete Filiale einer landesweiten Drogeriekette, die seit Mai ein reiches Sortiment an Kosmetik- und Hygieneartikel in die Donbass-Stadt bringt. „Die Zivilisation ist gekommen“, seufzt eine Frau. Das Jugendzentrum in grellem Orange mit dem ambitionierten Namen „Innovationszentrum für Entwicklung von Jugendlichen und Kindern“, in dem man Trainings abhält und Nachmittagsbetreuung anbietet. Die Militärs haben sich weitgehend aus dem Städtchen verzogen. Über den Checkpoint vor dem neunstöckigen zerbombten Hochhaus hatten sich Anwohner beklagt, weil sie dort jedes Mal auf dem Weg ins Zentrum kontrolliert wurden. Seit Sommer ist er verschwunden. Aus der Ferne hallen dieser Tage dumpfe Explosionen und Maschinengewehrfeuer. Zu weit weg, als dass jemand aufschrecken würde.
„Auslagerung“der Kämpfe
Im persönlichen Gespräch bestätigen Bewohner eine Beruhigung und Stabilisierung der Lage. „Niemand denkt mehr ans Wegfahren“, sagt der 16-jährige Mark Lichatschow. „Vor zwei Jahren war das noch ein Thema. Jetzt nicht mehr.“Auch er hat die Stadt in der schlimmsten Zeit verlassen und die Schule im 80 Kilometer entfernten Kramatorsk besucht.
Awdijiwka ist eine der am stärksten vom Krieg betroffenen Städte auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Früher zählte man hier 36.000 Einwohner, zeitweise waren es nur noch 20.000. Awdijiwka ist einer der Hotspots im Krieg zwischen der ukrainischen Armee und den Separatistenverbänden. 2015 und 2016 tobten hier schwere Kämpfe, in deren Verlauf zahlreiche Wohnhäuser zerstört und Zivilisten getötet wurden. Im Winter 2017 fiel die Fernwärme aus. Tausende waren von klirrender Kälte bedroht. Wer in die Stadt kam, traf auf Grimm und Verbitterung. Auch heute schweigen die Waffen nicht, allerdings hat die Intensität der Gefechte abgenommen.
Die Armee hat ihre Stellungen wie einen Ring um die Stadt gezogen. Die Kämpfe wurden ausgelagert. Am nördlichen Rand der Siedlung liegt eine Kokerei, der lokale Hauptarbeitgeber. Gäbe es die Fabrik nicht, Awdijiwka wäre schon lang eine Geisterstadt, heißt es hier. Doch so wie die Schlote des Industriebetriebs trotz Kriegsschäden weiter befeuert werden, ist heute ein leichter Optimismus zu spüren.
Hauptproblem Langeweile
Die ersten beiden Kriegsjahre 2014 und 2015 sind für den 16-jährigen Lichatschow weit weg. „Da war ich noch ein Kind“, sagt er. Und momentan schlägt das Pendel in die positive Richtung für Awdijiwka. Mark beschäftigen heute die typischen Probleme eines Jugendlichen aus der Kleinstadt: der Mangel an kulturellen Angeboten und speziellen Räumen für junge Menschen. Und die Langeweile.
Es ist ein Nebeneffekt des schmerzhaften Krieges, dass die Zivilgesellschaft in Kleinstädten wie Awdijiwka einen Entwicklungsschub erhielt – durch Gelder von außen und aktive Bürger. Tatjana Perewersewa ist so eine. Die Direktorin eines 2016 gegründeten StadtMuseums organisiert Ausstellungen und Lesungen. Einen „offenen Raum für all jene, die Ideen zum Mitmachen haben“, wolle sie bieten, sagt die Frau mit dem roten Kurzhaarschnitt.
Auch Nastja Kostina, 16, beteiligt sich aktiv am Stadtleben. Wie die Bewohner mit den andauernden Gefechten umgingen? „Wir versuchen, nicht darauf zu achten“, sagt sie. „Wir wissen nicht, wann der Krieg vorbeigeht – aber das Leben geht weiter.“Pragmatismus hilft. Was Nastja Kostina in Awdijiwka fehlt, ist ein Kino und ein Buchgeschäft. Letzteres gab es auch vor dem Krieg nicht. „Die Leute hier lesen nicht viel“, sagt die 16-Jährige, die Journalistin werden will. Für ihr Studium wird sie im nächsten Jahr die Kleinstadt an der Front verlassen. Wer etwas lernen will, der musste schon immer weg.