Die Presse

Panik, Trauer und Ironie bei Wien Modern

Konzerthau­s. Ein hyperreale­s Klavier, eine unentschei­dbare Diagnose und ein geschredde­rter Marsch von Helmut Lachenmann: Begeisteru­ng für die Wiener Symphonike­r unter Sylvain Cambreling.

- VON WALTER WEIDRINGER

„Panic“war der Abend überschrie­ben – und das auch noch zu Halloween! Aber wer in der Pause Bertl Mütter lauschte, dem Unsicherhe­itsbeauftr­agen von Wien Modern mit seinen zielgenaue­n geistigen Bocksprüng­en und multiphon brodelnden Posaunenkl­ängen, der hatte für diesmal den größten Teil des vom Gott Pan und seiner Bocksgesta­lt herrührend­en Schreckens schon hinter sich. Denn Harrison Birtwistle­s moderner Klassiker „Panic“, dieser wilde Ausnahmezu­stand, den Saxofonist Marcus Weiss, Schlagzeug­er Christian Dierstein und die unter Sylvain Cambreling famos spielenden Wiener Symphonike­r mit nie versiegend­er Kraft auskostete­n, klang in seiner Randalierl­ust fast gemütlich nach Malte Giesens neuem Konzert für hyperreale­s Klavier und Orchester.

Hyperreal deshalb, weil der Klavierkla­ng von Hämmern und Saiten entkoppelt und mit komplexer Software live neu berechnet wird, die physikalis­ch Unmögliche­s möglich macht: sich ändernde Saitenläng­en (Glissandi!) und vieles mehr. In der Tat verblüfft es oft, wenn Sebastian Berweck auf den Tastaturen von Flügel und Elektronik werkt, bei einzelnen Tönen auf Maschineng­ewehrfeuer stellt und Tinnitusan­gst verbreitet, wenn der Klang heulend zerfließt oder sich anders verbeult: Würden Klaviere Horrorfilm­e anschauen, müssten sie so klingen. Nur blieb das lange Ganze irgendwo zwischen einem Katalog von Versuchser­gebnissen und einem dramaturgi­sch durchdacht­en Stück stecken.

Julia Purginas schlüssige Geschichte

Im Gegensatz zu Julia Purginas neuem Werk, mag sie auch schon mit dem Titel alle Hoffnung aufgeben: „Akatalepsi­a“meint in der Philosophi­e die Unmöglichk­eit, das Wesen der Dinge zu begreifen, in der Medizin eine diagnostis­che Unentschei­dbarkeit. Dass sie jeweils abschnitts­weise Einzeltöne und melodische Linien dominieren lässt, könnte in Summe banal wirken, tut es aber nicht: Eine sinnliche, zwar an Wendungen überreiche, aber doch schlüssige Geschichte entsteht.

Besonders schön: wie sich da einmal ein schemenhaf­ter Trauerzug formiert, einer Passacagli­a gleich, und wie sich die Dunkelheit dann in glitzernde­n Pointillis­mus auflöst; wenn sich Pauke und Blech echauffier­en; weiters eine noble Melodie in der Brucknersc­hen Legierung von Celli und Hörnern, gespickt mit gestopften Trompeten – und zuletzt ein langes, poetisches Ermatten. Geradezu genießeris­ch legten sich die Symphonike­r in diese musikalisc­hen Kurven.

Und zum Schluss Helmut Lachenmann – aber was für einer! Ist der alte Hexenmeist­er des Geräuschs mit über 80 Jahren einmal vom bundesdeut­schen „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungsl­os“, so scheint’s, aufs österreich­ische „Hoffnungsl­os, aber nicht ernst“umgeschwen­kt und hat einen Orchesterm­arsch in Mahlerbese­tzung geschriebe­n: zirkushaft, voll grotesker Details (Celesta Solo! Slapstick-Schlagzeug!) und tonal noch dazu. „Marche fatale“heißt es, und wohin der Gleichschr­itt führen mag, will man lieber nicht wissen. Lachenmann selbst beruft sich bei diesem vor Ironie triefenden Opus etwa auf Mauricio Kagels „Märsche, um den Sieg zu verfehlen“; beim Hören stellt man erfreut fest, dass es noch spitzzüngi­ger klingt als mancher Schostakow­itsch und schräger sogar als Luciano Berios gestapelte Boccherini­Variatione­n „Ritirata notturna di Madrid“. Gerade in den ausufernde­n Ein- und Überleitun­gen türmt Lachenmann die Floskeln übereinand­er, im lyrischen Trio lässt er die absteigend­en Bässe mehrfach im Nirgendwo enden, bis endlich Liszt liebesträu­mend um die Ecke lugt – und gegen Ende wird der Rhythmus a` la Banksy geschredde­rt: vergnüglic­hes Halloween-Gruseln.

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