Panik, Trauer und Ironie bei Wien Modern
Konzerthaus. Ein hyperreales Klavier, eine unentscheidbare Diagnose und ein geschredderter Marsch von Helmut Lachenmann: Begeisterung für die Wiener Symphoniker unter Sylvain Cambreling.
„Panic“war der Abend überschrieben – und das auch noch zu Halloween! Aber wer in der Pause Bertl Mütter lauschte, dem Unsicherheitsbeauftragen von Wien Modern mit seinen zielgenauen geistigen Bocksprüngen und multiphon brodelnden Posaunenklängen, der hatte für diesmal den größten Teil des vom Gott Pan und seiner Bocksgestalt herrührenden Schreckens schon hinter sich. Denn Harrison Birtwistles moderner Klassiker „Panic“, dieser wilde Ausnahmezustand, den Saxofonist Marcus Weiss, Schlagzeuger Christian Dierstein und die unter Sylvain Cambreling famos spielenden Wiener Symphoniker mit nie versiegender Kraft auskosteten, klang in seiner Randalierlust fast gemütlich nach Malte Giesens neuem Konzert für hyperreales Klavier und Orchester.
Hyperreal deshalb, weil der Klavierklang von Hämmern und Saiten entkoppelt und mit komplexer Software live neu berechnet wird, die physikalisch Unmögliches möglich macht: sich ändernde Saitenlängen (Glissandi!) und vieles mehr. In der Tat verblüfft es oft, wenn Sebastian Berweck auf den Tastaturen von Flügel und Elektronik werkt, bei einzelnen Tönen auf Maschinengewehrfeuer stellt und Tinnitusangst verbreitet, wenn der Klang heulend zerfließt oder sich anders verbeult: Würden Klaviere Horrorfilme anschauen, müssten sie so klingen. Nur blieb das lange Ganze irgendwo zwischen einem Katalog von Versuchsergebnissen und einem dramaturgisch durchdachten Stück stecken.
Julia Purginas schlüssige Geschichte
Im Gegensatz zu Julia Purginas neuem Werk, mag sie auch schon mit dem Titel alle Hoffnung aufgeben: „Akatalepsia“meint in der Philosophie die Unmöglichkeit, das Wesen der Dinge zu begreifen, in der Medizin eine diagnostische Unentscheidbarkeit. Dass sie jeweils abschnittsweise Einzeltöne und melodische Linien dominieren lässt, könnte in Summe banal wirken, tut es aber nicht: Eine sinnliche, zwar an Wendungen überreiche, aber doch schlüssige Geschichte entsteht.
Besonders schön: wie sich da einmal ein schemenhafter Trauerzug formiert, einer Passacaglia gleich, und wie sich die Dunkelheit dann in glitzernden Pointillismus auflöst; wenn sich Pauke und Blech echauffieren; weiters eine noble Melodie in der Brucknerschen Legierung von Celli und Hörnern, gespickt mit gestopften Trompeten – und zuletzt ein langes, poetisches Ermatten. Geradezu genießerisch legten sich die Symphoniker in diese musikalischen Kurven.
Und zum Schluss Helmut Lachenmann – aber was für einer! Ist der alte Hexenmeister des Geräuschs mit über 80 Jahren einmal vom bundesdeutschen „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos“, so scheint’s, aufs österreichische „Hoffnungslos, aber nicht ernst“umgeschwenkt und hat einen Orchestermarsch in Mahlerbesetzung geschrieben: zirkushaft, voll grotesker Details (Celesta Solo! Slapstick-Schlagzeug!) und tonal noch dazu. „Marche fatale“heißt es, und wohin der Gleichschritt führen mag, will man lieber nicht wissen. Lachenmann selbst beruft sich bei diesem vor Ironie triefenden Opus etwa auf Mauricio Kagels „Märsche, um den Sieg zu verfehlen“; beim Hören stellt man erfreut fest, dass es noch spitzzüngiger klingt als mancher Schostakowitsch und schräger sogar als Luciano Berios gestapelte BoccheriniVariationen „Ritirata notturna di Madrid“. Gerade in den ausufernden Ein- und Überleitungen türmt Lachenmann die Floskeln übereinander, im lyrischen Trio lässt er die absteigenden Bässe mehrfach im Nirgendwo enden, bis endlich Liszt liebesträumend um die Ecke lugt – und gegen Ende wird der Rhythmus a` la Banksy geschreddert: vergnügliches Halloween-Gruseln.