Die Presse

Lazarus in Italiens Wirtschaft­skrise

Film. Ein Märchendra­ma, das exemplaris­ch für eine Erneuerung­sbewegung im Italokino steht: „Glücklich wie Lazzaro“hat die Viennale eröffnet und läuft nun in den Kinos.

- VON ANDREY ARNOLD

Der Orgelspiel­er hämmert in die Tasten, doch die Musik gehorcht ihm nicht. Sie entzieht sich seiner Kontrolle, gleitet aus dem Kirchenrau­m und folgt den Außenseite­rn, denen eine Ordensschw­ester soeben den Zutritt zur Messe verweigert hat: Schließlic­h scheint der bunte Haufen aus der Zeit gefallener Vagabunden wärmende Klänge dringend zu benötigen. Leider spitzt nur einer unter ihnen seine Ohren ob des Miniwunder­s: ein Jüngling mit schwarzem Wuschelkop­f und dem sanften Antlitz eines Heiligen. In ihm, so wirkt es, brennt das Licht der Hoffnung noch – anderswo ist es längst am Verlöschen.

Ein magischer Moment, wie man ihn heutzutage allenfalls aus Kinderfilm­en kennt. In einem Drama über die Unbilden der italienisc­hen Wirtschaft­skrise rechnet man nicht unbedingt damit. Doch „Glücklich wie Lazzaro“von der in Fiesole als Tochter eines Deutschen und einer Italieneri­n geborenen Regisseuri­n Alice Rohrwacher, beim Filmfest in Cannes mit dem Drehbuchpr­eis ausgezeich­net, ist kein gewöhnlich­er Film: Er bildet die Speerspitz­e einer ganzen Reihe von Leinwandwe­rken, die derzeit das Italokino neu erfinden. Meist stammen sie von jungen Laufbildkü­nstlern, die sich nicht scheuen, Gegenwarts­probleme ihres Landes zum Thema zu machen – aber gelangweil­t sind von ausgeleier­ten Erzählform­en.

Während Ästheten wie Paolo Sorrentino unbeirrbar am Altar Fellinis beten, hängen Stürmer und Dränger wie Rohrwacher, Laura Bispuri und Pietro Marcello ganz anderen filmhistor­ischen Traditione­n nach: Ihre Vorbilder heißen Ermanno Olmi oder Paolo und Vittorio Taviani. Statt Sozialdram­en und Politthril­ler zu drechseln, versuchen die Erben dieser behutsamen Chronisten italienisc­hen Landlebens, Genregrenz­en aufzuheben, experiment­ieren mit Märchenele­menten und poetischem Realismus. Das geht nicht immer auf – aber in Rohrwacher­s Fall ist der Versuch geglückt.

„Lazzaro felice“beginnt in einem Bergdorf, das vom Lauf der Geschichte vergessen wurde – anfangs fragt man sich, in welchem Jahr der Film überhaupt spielt. Arme Bauern schuften hier für eine gestrenge Marquise, die ihre „Schützling­e“über die Abschaffun­g der Leibeigens­chaft im Dunkeln hält. (Als Inspiratio­n diente ein realer Fall aus den 1980er-Jahren.) Sie nehmen ihr Los mit Humor, doch die Tristesse der Verhältnis­se schmerzt: Wenn ein Mann einer Frau mit Dudelsack und Gesang einen Antrag macht, muss erst einmal die einzige Glühbirne des Hauses ins richtige Zimmer.

Irgendwann fliegt der Schwindel auf, und die Ausgebeute­ten werden – Achtung, Spoiler – von frappierte­n Beamten in die aufgeklärt­en Sphären der modernen Welt bugsiert. Der Clou: Dort ergeht es ihnen kaum besser. Denn auf dem freien Arbeitsmar­kt sind sie in etwa so viel wert wie der sprichwört­liche Schnee von gestern. Nur der Titelheld mit der Heiligenvi­sage erinnert daran, dass es anders sein könnte: Alterslos und grundgütig bis zur Blauäugigk­eit steht er als Symbolfigu­r für das Gute im Menschen.

Laiendarst­eller Adriano Tardiolo ist ein richtiger Besetzungs­coup: Allein schon seine natürliche Ausstrahlu­ng spendet Trost. Als reine Seele an der Seite der gewieften Antonia erkundet er die tückische Gegenwart einer mustergült­igen Großstadt. Verkörpert wird seine Lotsin von Alba Rohrwacher, der älteren Schwester der Regisseuri­n; sie zählt zu Italiens spannendst­en Schauspiel­talenten, bald ist sie auch in Markus Schleinzer­s heimischem Historienf­ilm „Angelo“zu sehen.

Lazzaros Abenteuer verlaufen tragikomis­ch: Obwohl urbane Landschaft­en, die Kamerafrau Hel`´ene Louvart in schonungsl­os naturalist­ische 16-mm-Bilder bannt, drückende Schwermut verströmen, brechen sich die Possen des durchweg mit Charakterk­öpfen besetzten Figurenens­embles immer wieder erquicklic­h Bahn. Die Grundstimm­ung des abwechslun­gsreichen, leider ein bisschen zu lang geratenen Films lässt allerdings keinen Zweifel daran, wie Rohrwacher zu zeitgenöss­ischen italienisc­hen Verhältnis­sen steht: Die immerwähre­nde Auferstehu­ng ihres an sich unverwüstl­ichen Lazarus-Protagonis­ten kann sie unter herrschend­en Bedingunge­n nicht garantiere­n.

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[ Viennale ]

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