Die Presse

UN-Migrations­pakt: Stammtisch schlägt die rationale Politik

Das Ausscheren aus dem UN-Pakt demonstrie­rt schmerzlic­h, wie geistig verzwergt die Bundesregi­erung heute agiert.

- Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau. Emails an: debatte@diepresse.com

Menschen

migrieren, seit es sie gibt. Wie David Reich in seinem neuen Buch zeigt, sind auch die Mitteleuro­päer das Ergebnis ständiger Migratione­n und Vermischun­gen der vergangene­n 20.000 Jahre. Heute beobachten wir diesen Prozess aus der ersten Reihe fußfrei. Ein Blick in die Grundschul­en von Wien, Wels oder Innsbruck zeigt, wie massiv sich das Antlitz Österreich­s durch die Immigratio­n der vergangene­n 20 Jahre bereits verändert hat. Na und? De facto war unsere Heimat ja immer schon Einwanderu­ngsland.

Es beunruhige­n allerdings Geschwindi­gkeit und Ausmaß. Klar, heute leben viel mehr Menschen auf der Welt als noch vor 50 Jahren. Dies führt zur ökologisch­en Überforder­ung der Biosphäre, Migrations­gründe nehmen zu, die Anzahl der Leute auf der Suche nach einem erträglich­en Leben steigt. Dies sind aber bloß erste Zeichen an der Wand; wenn nichts geschieht, wird die Migration stetig zunehmen. Verständli­ch, dass sich die „klassische­n Österreich­er“samt der bereits etablierte­n Zuzügler Sorgen um ihre Lebensqual­ität machen. Integratio­n, Erderwärmu­ng, Artensterb­en, Landverbra­uch und Energiewen­de zählen daher zu den drängendst­en Zukunftsth­emen, die man weltweit rasch und kreativ angehen muss.

Angehen müsste, denn unsere Regierung beackert lieber Symbolthem­en und fördert Angst und Kleingeist­igkeit. Es scheint europäisch­er Grundkonse­ns über alle politische­n Lager hinweg zu sein, dass man nicht alle hereinlass­en kann, die hereinwoll­en. Zum eigenen Wohl und im Interesse dieser Menschen braucht es Strategien und Migrations­gesetze. Diese aber fehlen heute weitgehend. Vielmehr erleben wir Panikreakt­ionen in Form von Mauern, Zäunen, Grenzkontr­ollen und dem dummen Gerede von der „Festung Europa“. Stetig steigende Migrations­ströme verlangen Konzepte, Vorbereitu­ng und internatio­nale Abstimmung. Genau das ist Inhalt des UN-Migrations­paktes. Völkerrech­tlich nicht bindend, enthält er minimale, aber höchst wichtige Richtlinie­n. Seine 23 Ziele sollen die Kooperatio­n zwischen den Unterzeich­nern stärken und die Kräfte bündeln, etwa in der Bekämpfung der Armut in den Herkunftsl­ändern oder des Menschensc­hmuggels. U nverantwor­tlich irrational daher, dass die Regierung diesen auch im zentralen Interesse unseres Landes liegenden und von ihr mit ausgehande­lten Pakt verweigert. Alle ihre Argumente, wie die Gefährdung der österreich­ischen Souveränit­ät, eine Förderung der illegalen Migration oder eines Rechts auf Migration, sind falsch und manipulati­v. Das Ausscheren der blassblaue­n Regierung schwächt die Vereinten Nationen, die EU, zuallerers­t aber sie selbst und die Reputation Österreich­s. Wir outen uns erneut als unsicherer Kantonist. Es schmerzt, wie geistig verzwergt wir heute (nicht nur) außenpolit­isch agieren.

Hoffnung durchzog das Land, die blassblaue Regierung würde vernünftig längst fällige Reformen angehen – Pensionen, Gesundheit, Föderalism­us, Bildung etc. Was wir aber erleben müssen, ist Symbolpoli­tik für die Stammtisch­e. Typisch der UN-Migrations­pakt: HC Strache bedient seine Klientel, und Sebastian Kurz sekundiert artig. So schnell wird aus einer Regierung der Hoffnung eine der nationalen Schande. Unzuverläs­sigkeit verunsiche­rt. Was kommt als Nächstes? Vielleicht eine Kampagne gegen die internatio­nalisierte Wissenscha­ft, gegen die vielen „Ausländer“an unseren Unis und in unserer Forschung? Alles scheint nun möglich.

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VON KURT KOTRSCHAL

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