Die Chancen auf Abschluss der Verhandlungen bei einem Sondergipfel im November schwinden – die britische Regierung muss die EU-Bedingungen annehmen.
EU-Austritt Großbritanniens.
Die gefühlt hunderttausendste „alles entscheidende Woche“in den Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens begann am Montag dezidiert unspektakulär mit einem Treffen der Ratsformation Allgemeine Angelegenheiten in Brüssel. Unter dem Vorsitz von Kanzleramtsminister Gernot Blümel (ÖVP) wurden die Vertreter der EU-Mitgliedstaaten vom Brexit-Chefunterhändler, Michel Barnier, auf den neuesten Verhandlungsstand gebracht. Auf Barniers Briefing folgte dem Vernehmen nach ein knappes Dutzend Wortmeldungen seitens der versammelten Minister. Grundtenor: Die EU-27 stehen nach wie vor geschlossen hinter der EU-Kommission und Barnier, der in ihrem Namen mit der britischen Regierung verhandelt.
Bis in die frühen Montagmorgenstunden hatten Theresa Mays Brexit-Berater Olly Robbins und Sabine Weyand von der EU-Kommission in Brüssel über die Modalitäten des britischen Austritts gesprochen – die unbeantworteten Fragen bleiben weiter unbeantwortet. Nach Auskunft eines Sprechers der Kommission hat es bis gestern zu wenige Fortschritte gegeben, um weißen Brexit-Rauch über dem Bürokomplex Berlaymont, dem Hauptsitz der Brüsseler Behörde, aufsteigen zu lassen: „Die Gespräche auf technischer Ebene laufen, aber wir sind noch nicht so weit.“
Das bringt Theresa May unter Druck. Die britische Premierministerin hofft nach wie vor darauf, dass das Austrittsabkommen bei einem EU-Sondergipfel im November fixiert werden kann. Doch Ratspräsident Donald Tusk will das Treffen erst dann anberaumen, wenn der Scheidungsvertrag in trockenen Tüchern ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in den EU-Hauptstädten die Skepsis bezüglich eines Sondergipfels im laufenden Monat überwiegt. „Das wird im Dezember der Fall sein“, sagte der belgische Außenminister, Didier Reynders, gestern. Ein Deal vor Weihnachten sei damit nach wie vor möglich.
Für May, die parteiintern sowohl von EU-Freunden als auch von Europafeinden angegriffen wird, wird allerdings die Zeit knapp. Denn das Austrittsabkommen, über das in Brüssel verhandelt wird, muss noch von den briti- schen Abgeordneten abgesegnet werden – und es ist momentan alles andere als klar, ob May im Unterhaus eine Mehrheit für den Brexit-Pakt zusammenkratzen kann.
Die Verhandlungen in Brüssel kreisen nach wie vor um die Frage, wie London gewährleisten kann, dass nach dem EU-Austritt keine „harte“Grenze zwischen dem nordirischen Landesteil und der Republik Irland entsteht – die Briten und die Iren haben sich im Rahmen des Karfreitagsabkommens von 1998 dazu verpflichtet, die Grenze offen zu halten, um den Nordirlandkonflikt zu entschärfen.
Brüssel hält die Vorschläge, die London bis dato gemacht hat (technologische Lösungen sollen Grenzkontrollen überflüssig machen), für unpraktikabel und inakzeptabel. Die EU fordert einen sogenannten Backstop: Im Fall des Falles soll Nordirland im EU-Binnenmarkt verbleiben – was wiederum Kontrollen zwischen Nordirland und Rest-Großbritannien erfordern würde. May hat dem „Backstop“ursprünglich zugestimmt, hat aber mittlerweile Bedenken, weil der innenpolitische Gegenwind in London zu heftig ist. Bei den aktuellen Gesprächen geht es folglich darum, den Briten den „Backstop“schmackhaft zu machen. Die EU schlug den Briten zuletzt vor, ganz Großbritannien in der europäischen Zollunion zu behalten, solang kein separates Handelsabkommen steht – was Zollkontrollen an der irischen Grenze obsolet machen würde.
Die Europäer wollen allerdings gewährleisten, dass britische Firmen die Zwischenlösung nicht dazu missbrauchen, europäische Wettbewerber zu unterbieten. Die Lösung aus Brüsseler Sicht: London soll sich dazu verpflichten, alle relevanten EU-Umwelt- und Produktnormen einzuhalten. Forderung Nummer zwei: Der Ausstieg aus der Zwischenlösung kann nur einvernehmlich beschlossen werden – und nicht von den Briten im Alleingang. Aus der EU-Perspektive ist der rund 400-seitige Vertragsentwurf inhaltlich weitgehend festgezurrt. Nun müssen die Briten über ihren Schatten springen.
Den EU-Feinden in der Regierung geht das zu weit. Bei der heutigen Kabinettssitzung hat May die Gelegenheit dazu, die Hardliner zu konfrontieren. Sie könnte aber auch – zum gefühlt hunderttausendsten Mal – auf Zeit spielen.