Was ist das rechte Maß?
Metrologie. Diese Woche werden Grundeinheiten der Physik und des Alltagslebens neu definiert, vor allem jene des Kilogramms. Es wird an die Planck-Konstante gebunden.
Ihr sollt kein Unrecht begehen beim Beurteilen von Länge, Gewicht und Menge“, mahnt die Heilige Schrift der Juden und Christen (Leviticus 19:35), und die der Moslems wird noch deutlicher: „Wehe denjenigen, die das Maß verkürzen“(Sure 83:1): Die Probleme des Messens und seines Missbrauchs sind uralt, und sie liegen nicht nur im Betrug, sondern in der Sache selbst: Erst einmal braucht man Maße. Das Maß aller Dinge war zunächst auch ganz unmetaphorisch der Mensch, bei der Länge etwa mit der seiner Glieder (Elle, Fuß), bei der Fläche etwa mit der, die in einer bestimmten Zeit bestellt werden konnte (Morgen).
Aber die Maße differierten von Ort zu Ort und innerhalb der Orte von Ware zu Ware, in Augsburg etwa wurde in der Zeit vor 1800 Korn in „Schaff“gemessen – in Ulm in „Immi“–, Holz in Klafter, bei Tuch gab es für verschiedene Qualitäten verschiedene Ellen. Zudem war das Umrechnen in kleinere Einheiten bisweilen kopfbrecherisch: „Um trockene Ware zu messen, benützen wir den resal und seine Teilungen. Ein resal besteht aus acht Einheiten, die bichot heißen, jeder von denen teilt sich in sechs pots.“Das zog sich weiter zu verres, von denen jeder der 1152. Teil eines resal war, der Pole Witold Kula, ein rarer Historiker der Maße, hat es in einem französischen Handbuch des 18. Jahrhunderts gefunden.
Alter Wunsch: Ordnung ins Chaos!
In dieses Chaos haben viele Ordnung zu bringen versucht, von Alexander dem Großen über Karl den Großen bis zu Ludwig XIV., aber die Unschärfe diente auch Interessen, etwa denen von Grundherren, die ihren Bauern Saatgut in kleineren Körben liehen und sich nach der Ernte in größeren zurückzahlen ließen.
Gegen diese Mittelschicht mit ihren Machenschaften standen Bauern und absolute Monarchen – sie brauchten einheitliche Bemessungsgrundlagen für Steuern – zusammen, aber erst als Letztere weggefegt waren, in bzw. nach der Französischen Revolution, wurden die Maße vereinheitlicht und auf Dezimalsysteme umgestellt. Die aufkommende Naturwissenschaft half mit, sie maß etwa den Umfang der Erde, aus dem die Länge eines Meters errechnet wurde: ein Zehnmillionstel der Entfernung zwischen Nordpol und Äquator auf dem Meridian durch Paris. Eine Sekunde war der 86.400. Teil des mittleren Sonnentags, natürlich auch in Paris, ein Gramm das Gewicht eines Kubikzentimeters Wasser bei 3,98 Grad Celsius. Alles gelang nicht: Die Einteilung des Tages in zehn Stunden – a` 100 Minuten a` 100 Sekunden – wurde zwar 1793 zusammen mit der des Meters und Kilogramms von der Nationalversammlung beschlossen, stieß aber auf wenig Gegenliebe.
Nun brauchte es nur noch Referenzen und natürlich ein Amt, das alles regelte: Die ersten Referenzen, aus Platin, waren 1799 in Frankreich da, 1889 führte das Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) in Paris – dort regieren die Herren der Maße heute noch – Urmeter und Urkilo international ein (viele andere Maße auch), beide bestanden aus dem Dauerhaftesten, was man kannte, Platin und Iridium.
Urkilogramm: Rätselhafter Schwund
Aber zum einen wurden die Messungen immer feiner, zum anderen nagte der Zahn der Zeit an den Referenzkörpern, deshalb stellte man nach und nach auf Ewiges um, auf Naturkonstanten. Der Meter etwa wurde an die Lichtgeschwindigkeit gebunden, er ist die Entfernung, die Licht in einer 299.792.548stel Sekunde zurücklegt (die Sekunde ist seit 1967 über Oszillationen der Mikrowellen von Cäsium-Isotopen definiert). Nur das Urkilo blieb als Gegenstand – „Le Grand K“, ein 3,9 Zentimeter dicker und hoher Zylinder –, wohlverwahrt in staubarmen Räumen unter drei Käseglocken in Paris. Trotzdem änderte sich seine Masse: Sie wurde aus unerfindlichen Gründen, möglicherweise durch Putzen, immer geringer, verlor in 58 Jahren 430 Mikrogramm.
Das Rätsel ist umso größer, als sich der Schwund nur beim Urkilogramm in Paris zeigte, nicht bei seinen vielen über die Erde verteilten Kopien: Deren Masse bleibt konstant, aber da Paris das Sagen hat, wurden sie alle um die 430 Mikrogramm schwerer. Man sucht lang schon Abhilfe, zwei Fraktionen konkurrierten, die eine will Atome zählen, die andere Leistung wiegen. Als Naturkonstante dient Ersterer die 1811 von Amadeo Avogadro bemerkte: Gleich große Volumina reiner Stoffe haben bei gleicher Temperatur und gleichem Druck dieselbe Anzahl an Teilchen. Die andere arbeitet mit einer Waage, bei der eine Masse im Schwerefeld der Erde eine mechanische Vertikalkraft ausübt und dabei durch eine elektromagnetische Kraft im Gleichgewicht gehalten wird: Dann kann man die mechanische Leistung (Masse m x Erdbeschleunigung g x Geschwindigkeit v) in Bezug setzen zur elektrischen (Stromstärke I x Spannung U), und Letztere ist mit der Konstante verknüpft, die 1900 von Max Planck postuliert wurde. Diese kann man mit der Waage präziser bestimmen, umgekehrt lässt sich mit ihr das Kilogramm definieren.
Zirkel: Feineres Messen, feinere Maße
Ein zirkuläres Verfahren praktiziert auch die Avogadro-Fraktion, und sie hat damit vor Jahren schon eine neue Referenz-Kilo-Kugel gebaut, aus höchst reinem Silizium-28 – Materialwert über eine Million Euro. Aber im Bereich der Milliardstel blieben Unschärfen, deshalb wurde die für 2011 vorgesehene Entscheidung des BIPM damals vertagt. Nun ist es so weit: Auf der Conference´ Gen´erale´ des Poids et Mesures wird diese Woche das andere Verfahren etabliert, das der Watt-Waage und der Planck-Konstante, auch gegen Bedenken, dass die Vorstellungskraft allein – ohne etliche Semester Physik – der Definition bzw. dem Verfahren nicht folgen kann. (Das gilt auch für andere Einheiten, die diese Woche neu festgelegt werden: Ampere, Kelvin, Mol, als Nächstes folgt die Sekunde, deren Messung durch feinere Atomuhren präziser geworden ist.)
Im Gegenzug leiden manche der Metrologen, die all diese Feinheiten ersinnen, lang schon darunter, dass ihre Mühen im Alltag überhaupt nicht bemerkt werden: Auf Märkten wird gewogen wie eh und je, und wie eh und je halten sich nicht alle, die da wiegen, an die Gebote ihrer heiligen Schriften, die damit untermauert werden, dass auch Handlungen einmal gewogen werden, von höheren Autoritäten als jenen in Paris.