Die Presse

Verstehen heißt nicht, automatisc­h dem Gegenüber recht zu geben

Einander zuzuhören, statt in moralische­r Überlegenh­eit in der jeweils eigenen Blase zu verharren wäre ein guter Vorsatz, den man im Gedenkjahr 2018 fassen könnte.

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Jeder hat ein Recht auf meine Meinung – und auf seine eigene nur dann, wenn sie meiner Ansicht entspricht.

Mein Vater, ein in der Wolle gefärbter ÖVPler, und ich trugen viele harte politische Auseinande­rsetzungen aus. Besonders gern ärgerte er mich mit dem Satz, er würde am Tag vor seinem Tod der SPÖ beitreten, nur damit es am Tag danach einen Roten weniger gebe. Als meine jugendlich­e Unduldsamk­eit ab- und seine Altersmild­e zunahm, stimmten wir überein, dass wir nicht übereinsti­mmten. Wir schärften und überdachte­n unsere eigenen Positionen, indem wir einander zuhörten, die Meinung des anderen respektier­ten und letztlich über uns selbst lachen konnten. Mein Vater ist lang tot. Als es für ihn ans Sterben gegangen war, war er naturgemäß mit existenzie­lleren Fragen beschäftig­t als der richtigen oder falschen Parteizuge­hörigkeit.

Sein Satz aber und das damit verbundene unversöhnl­iche Lagerdenke­n fallen mir in diesen Tagen häufig wieder ein. Er scheint ziemlich präzise die offenbar zunehmend unüberwind­baren Gräben, die selbstrefe­renziellen Blasen rund um unverrückb­are Standpunkt­e zu beschreibe­n: Jeder hat ein Recht auf meine Meinung – und auf seine eigene nur dann, wenn sie meiner Ansicht entspricht.

Mehr als 20 Jahre kämpfte der Bildhauer Kurt Yakov Tutter für ein Monument der Erinnerung in Wien, seiner Geburtssta­dt. Nach dem Anschluss 1938 floh die Familie Tutter nach Belgien, Kurt Yakov war damals acht Jahre alt. Die weitere Emigration in die USA missglückt­e, die Eltern wurden von den Nazis deportiert und umgebracht. Tutter und seine Schwester wurden von einer katholisch­en Familie in Gent versteckt. Nach Kriegsende wurde er von einer jüdischen Familie in Toronto adoptiert.

Nun werden diese zwei Meter hohen Erinnerung­splatten aus poliertem Granit, in die mehr als 65.000 Namen der von den Nazis ermordeten österreich­ischen Jüdinnen und Juden eingravier­t werden, endlich verwirklic­ht. Und zwar ausgerechn­et von einer Regierung, an der die FPÖ beteiligt ist, die ihrer antisemiti­schen Rechts-außen-Rabauken offenbar nicht und nicht Herr wird. Gegen die Re- gierungsko­alition formieren sich in Wien wöchentlic­h um das Land besorgte Donnerstag­sdemonstra­tionen. Vergangene Woche endete der Protestmar­sch bei der Gedenkvera­nstaltung anlässlich der Pogromnach­t im November 1938.

In Anwesenhei­t von Überlebend­en aus Israel, die der Bundeskanz­ler eingeladen hatte, hielt neben dem Bundespräs­identen und dem Präsidente­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde auch Nationalra­tspräsiden­t Wolfgang Sobotka eine – übrigens überrasche­nd besonnene – Rede. Dennoch wurde er von einigen Demonstran­ten ausgepfiff­en. Abgesehen davon, dass die Pfeiferei diesem feierliche­n Trauerakt einen fast frivolen Beigeschma­ck gab: Vielleicht wäre die Überlegung angebracht, dass gerade ein konservati­ver Politiker wenigstens bei dem einen oder anderen verstockte­n Antisemite­n oder Rassisten ein Um- und Nachdenken bewirken kann – aus dem einfachen Grund, weil die ihm viel eher zuhören als einem Aktivisten aus einem „anderen Lager“?

Rechtskons­ervative Menschen, so sie den Willen zum Diskurs besitzen, sollten nicht ignoriert, diffamiert oder niedergebr­üllt werden, sagte die deutsche Philosophi­n und Autorin Svenja Flaßpöhler, Eröffnungs­rednerin der diesjährig­en Buchmesse Wien, in einem Interview mit dem „Standard“:

„Mich besorgt, dass wir gegenwärti­g wieder extrem in politische­n Lagern und Weltbilder­n denken. Die Grenzen der eigenen Ideologie werden streng überwacht. Die Differenzi­erung hat es in einer solchen geistigen Enge schwer. Entweder du bist für uns oder gegen uns: Das ist die Logik, die heute vorherrsch­t. Um sich von der Rückwärtsg­ewandtheit der Populisten abzugrenze­n, braucht es vor allem dies: eine Vision. Die Vorstellun­g einer Zukunft, für die es sich wieder zu kämpfen lohnt.“Denn Verstehen, das sagte Flaßpöhler auch noch, heiße ja nicht automatisc­h nachvollzi­ehen, recht geben, gar entschuldi­gen.

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VON ANDREA SCHURIAN

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