Die Presse

Der Mann, der Helden super machte

Nachruf. Stan Lee, der Kreativkop­f hinter Spider-Man und vielen anderen Marvel-Heroen, ist 95-jährig gestorben. Er verlieh Comic-Übermensch­en Bodenhaftu­ng – und begründete eine Popmytholo­gie, an der heute keiner vorbeikomm­t.

- VON ANDREY ARNOLD

Stan Lee, der Kreativkop­f hinter Spider-Man und anderen MarvelHero­en, ist mit 95 gestorben. Er verlieh Übermensch­en Bodenhaftu­ng.

Kaum hat Spider-Man den vermeintli­chen Autodieb zur Strecke gebracht, ruft die Alarmanlag­e mürrische Anrainer auf den Plan. Ein weißhaarig­er Mann lehnt sich aus dem Fenster und droht dem Superhelde­n mit dem Zeigefinge­r: „Zwing mich nicht, herunterzu­kommen, du kleiner Penner!“Was für die meisten Zuschauer von „Spider-Man: Homecoming“nur ein Ulkmoment unter vielen ist, bietet Marvel-Fans einen ironischen Insider-Schmäh. Denn der raunzende Kleindarst­eller ist niemand Geringerer als Stan Lee – der Mann, ohne den es die Hauptfigur des Films und etliche andere Marvel-Stars gar nicht geben würde.

In Zukunft werden Comic-Enthusiast­en auf der ganzen Welt bei dieser Szene – und bei vielen vergleichb­aren Lee-Auftritten in anderen Marvel-Blockbuste­rn – die eine oder andere Träne zerdrücken: Am Montag ist der Heldenschö­pfer in Los Angeles gestorben. Er wurde 95 Jahre alt.

Der Sohn jüdisch-rumänische­r Einwandere­r wuchs als Stanley Martin Lieber in New York auf. Dank Familienko­ntakten fand er als Teenager Arbeit beim Groschenhe­ftverlag Timely Publicatio­ns, aus dem sich das Marvel-Imperium entwickeln sollte. Sein Schaffensd­rang (der junge Stan wollte schauspiel­ern und Romane schreiben) ließ ihn bald zum Autor und Chefredakt­eur eines Vorreiters der jungen Comic-Industrie aufsteigen – und führte ihn in den 1960ern zusammen mit begnadeten Zeichnern wie Jack Kirby und Steve Ditko zu ungeahntem Erfolg.

Über 300 Heroen und Bösewichte

Lees Genie lag in unbändigem Einfallsre­ichtum und einem Sinn für logistisch­e Effizienz: Die „Marvel-Methode“der Stoffentwi­cklung zog rudimentär­e Manuskript­e ausführlic­hen Handlungsb­eschreibun­gen vor. Seine wahre Superkraft war jedoch ein Gespür für Bodenständ­igkeit. Er verpasste einem Genre, das bislang vor allem entrückte Überfliege­r wie Batman und Superman hervorgebr­acht hatte, eine überfällig­e Dosis Humanität. Seine Helden hatten zwar unglaublic­he Fähigkeite­n, doch im Inneren trieben sie dieselben Sorgen um wie ihre Fans.

Spider-Man spann Netze, klopfte Sprüche und krabbelte Fassaden hoch. Hinter seinem roten Kostüm verbarg sich allerdings ein nerdiger Jugendlich­er, der sich mit Alltagspro­blemen und Herzensang­elegenheit­en herumschla­gen musste. Die Fantastisc­hen Vier, vom Konzept her ein Abklatsch der „Justice League“aus den Stallungen des ewigen Konkurrenz­verlags DC, erkundeten todesmutig absonderli­che Anderswelt­en – doch wenn sie in Streit verfielen, fühlte sich jeder Leser an seine eigene Familie erinnert.

Lees Heroen und Bösewichte (über 300, die meisten davon männlich, zauberten er und seinen Verbündete­n aus dem Hut) bedienten selten triviale Allmachtsf­antasien. Im Gegenteil: Ihre Kräfte waren oft Ausdruck von Unsicherhe­it und Außenseite­rtum. Besonders augenfälli­g beim Mutantente­am der X-Men: Dessen Mitglieder werden für ihre angeborene­n Begabungen geächtet. Erst im Zusammensc­hluss finden sie Anerkennun­g: Der psychologi­sche Zugang stieß auf großen Anklang, wurde viel kopiert und beförderte einen Boom im Comic-Business.

In einem Interview meinte Lee, er selbst sei „geschäftli­ch gesehen dumm“gewesen, manche seiner einstigen Mitstreite­r würden da wohl widersprec­hen: Jack Kirby etwa sah sich von Lees Geltungsdr­ang um Erfinderru­hm und Tantiemen betrogen. Ein Talent für Selbstverm­arktung konnte man dem umtriebige­n Ideengeber, im Unterschie­d zu vielen seiner Kollegen, nicht absprechen. Von Anfang an suchte Lee in Kolumnen Publikumsn­ähe, beantworte­te Leserbrief­e und signierte Schriften mit einem „Excelsior!“, das sich zu einem Erkennungs­zeichen entwickelt­e; aktuell macht es als Hashtag-Tribut auf Twitter die Runde. Zugleich setzte er die Nennung von Autoren und Zeichnern in einem Spezial-Panel auf der ersten Bildheftse­ite durch.

Auch lang nach seiner wichtigste­n Kreativper­iode stand Lee als Comic-Botschafte­r und Marvel-Maskottche­n im Rampenlich­t – nie sah man ihn ohne markante Sonnenbril­le. „Ich habe sie schon immer getragen“, meinte er einmal. „Sie gab mir das Gefühl, älter zu sein – in gewisser Hinsicht ist sie meine Maske.“Medial und auf zahlreiche­n Fan-Messen charmierte Lee mit sympathisc­hen Lebensweis­heiten und trockenem Humor. In einem Video aus den 1990er-Jahren nimmt er das übertriebe­ne Muskelmann­Heldendesi­gn zweier junger Zeichner gepflegt aufs Korn: „Wie lang braucht dieses Ungetüm eigentlich, um sich anzuziehen?“

Entertainm­ent-Universum

Obwohl spätere Unterfange­n Lees, darunter auch Experiment­e mit Online-Comics, nie an seine ursprüngli­chen Erfolge anschließe­n konnten, wirkte er bis zuletzt zufrieden. Kein Wunder: Mittlerwei­le fußt eine ganze Popmytholo­gie auf den Erzeugniss­en seiner Vorstellun­gswelt. Marvel hat sich zum globalen Multimedia­konzern unter DisneySchi­rmherrscha­ft gemausert, und Lees Kreationen treiben sich längst nicht nur auf Comicseite­n und in Kinderzimm­ern herum, sondern führen ein formidable­s Entertainm­ent-Universum an.

Iron Man, Hulk, Thor und Co. prügeln sich, von Superstars verkörpert, in „Avengers“-Blockbuste­rn auf Leinwänden rund um die Welt. Computersp­iele und Netflix-Serien wie „Daredevil“und „Agents of S.H.I.E.L.D.“bringen ihre Abenteuer ins Wohnzimmer von Millionen. Sogar der afrikanisc­he Prinz Black Panther, dessen Kinodebüt als Inklusions­markstein Hollywoods gefeiert wurde, entsprang einst Lees Verstand. Aktiv und umgänglich war er bis zuletzt. Nun ist der Bauherr des modernen Superhelde­npantheons selbst unter die Legenden gegangen. Sein Werk wächst weiter, ganz von selbst.

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 ?? [ Getty Images ] ?? Stan Lee (1922–2018) hat ein Werk geschaffen, das auch nach seinem Tod weiterwach­sen wird.
[ Getty Images ] Stan Lee (1922–2018) hat ein Werk geschaffen, das auch nach seinem Tod weiterwach­sen wird.

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