Rumänien droht eine Staatskrise
Rechtsstaat. Sechs Wochen vor Rumäniens EU-Vorsitz ziehen dunkle Wolken auf. Dem Land droht wegen seiner Rückschritte im Kampf gegen Korruption ein EU-Verfahren wie Ungarn.
Bukarest/Brüssel. Ist Rumäniens Europaminister Victor Negrescu tatsächlich selbst abgetreten, wie von seinen Kabinettskollegen am Wochenende verbreitet? Oder haben missgünstige Parteirivalen den 33-jährigen Jungminister der Sozialisten (PSD) sechs Wochen vor Beginn von Rumäniens EU-Ratsvorsitz als dessen Koordinator mit gezielten Indiskretionen ins Aus stolpern lassen? Die Lage sei „außer Kontrolle“geraten, klagte zu Wochenbeginn der christdemokratische Staatschef Klaus Johannis. Es sei nicht mehr klar, wer in der Regierung verantwortlich und wer zurückgetreten oder abgesetzt sei: „Wir sind für die EU-Präsidentschaft nicht bereit.“
Doch es steht nicht nur die unfallfreie Organisation des sechsmonatigen Ratsvorsitzes auf dem Spiel. Rumänien steckt in einer Staatskrise. Das hat auch Brüssel alarmiert: „Rumänien ist in seinem Reformprozess nicht nur stecken geblieben, es hat auch Rückschritte in Bereichen gemacht, in denen es in den vergangenen zehn Jahren Fortschritte gab“, erklärte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, am Dienstag anlässlich der Vorlage des neuesten Berichts im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens der Brüsseler Behörde. Wenige Stunden zuvor beschloss das Europaparlament eine Resolution, in der es Bukarest davor warnte, „die Unabhängigkeit der Justiz und die Kapazität zur wirksamen Korruptionsbekämpfung im Land strukturell zu schädigen und die Rechtsstaatlichkeit zu schwächen“.
Auch die Opposition bewertet die Ausbootung von Negrescu als Zeichen der Unfä- higkeit der Regierung von Premierministerin Viorica Dancil˘a˘ zur Übernahme der EUPräsidentschaft. „Das Rezept für das Desaster ist komplett“, warnte Cristian Ghinea von der Partei USR, die 2016 als Anti-Korruptions-Bewegung gegründet worden war.
„Regierung begreift EU-Politik nicht“
Rumänien könnte ein EU-Verfahren wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit blühen, wie es bereits gegen Ungarn und Polen läuft. Doch PSD-Chef Liviu Dragnea hat nicht Europa, sondern nur das eigene Fell im Blick: Nicht zuletzt um einer drohenden Haftstrafe zu entgehen, hält der vorbestrafte Politiker trotz wachsenden Unmuts in der eigenen Partei eisern an der Absicht fest, die Justiz unter Kontrolle zu bringen.
Negrescu habe die Vorbereitungen für die EU-Präsidentschaft professionell geführt
LEXIKON
Rechtsstaatsverfahren. Ein Verfahren laut Artikel 7 des EU-Vertrags kann wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze gegen jedes EU-Land gestartet werden. Der Vorschlag kann entweder von der EU-Kommission, vom Rat der EU oder vom EU-Parlament kommen. Ein EU-Gipfeltreffen muss letztlich einstimmig (ohne den betroffenen Regierungschef) eine Verletzung feststellen. Als Sanktion kann dem Land das Stimmrecht im Rat so lang entzogen werden, bis es die vorgegebenen EU-Standards wieder erfüllt. und in Brüssel ein „gutes Image“gehabt, sagt der Bukarester Politik-Analyst Cristian Pirvulescu zur „Presse“. Doch von der PSDFührung sei diesem vorgeworfen worden, die Positionen Bukarests im Streit um die Justizreform gegenüber der EU „nicht entschieden genug“vertreten zu haben. Ein Problem der „sehr inkompetenten Regierung“sei es auch, dass Dragnea die Vertrauensleute lokaler Parteibarone zu Ministern gemacht habe: „Die Regierung hat einfach nicht die politische Kapazität, europäische Politik zu begreifen.“Zudem sei die Kooperation zwischen Regierung und dem Staatschef Johannis „nicht gut“.
„Unfall der rumänischen Demokratie“
Die Koordination der Vorbereitungen auf den EU-Ratsvorsitz, den Rumänien am 1. Jänner von Österreich übernimmt, leide auch unter der innenpolitischen Lage, so Pirvulescu. Ein geplanter Misstrauensantrag der Opposition könne wegen des Machtkampfs in der PSD „möglicherweise“erfolgreich sein. Johannis spricht gar von der Notwendigkeit, „im letzten Moment“die Regierung als „Unfall der rumänischen Demokratie“abzulösen. Die Notwendigkeit für eine neue Regierung hält auch Pirvulescu für offensichtlich, die Fähigkeit der PSD zur Selbstkorrektur jedoch für begrenzt: „Die PSD hat derzeit keine rationalen Politiker.“
Wir sind für die EUPräsidentschaft nicht bereit. Rumäniens Staatspräsident Klaus Johannis
W ar das ein Freud’scher Versprecher oder ein unschuldiger Ausrutscher? Als Rumäniens Ministerpräsidentin Viorica Dancil˘a˘ am 24. Mai an einer öffentlichen Debatte ihres Regierungskabinetts teilnahm, lobte sie deren Erfolge darin, „die Demokratie zu verringern“. Schnell korrigierte sie dies auf „Bürokratie“, doch weil das Internet nie vergisst, fliegt dieser Videoclip der rumänischen Regierung sechs Wochen vor Beginn ihres ersten EUVorsitzes um die Ohren.
Für Europa lässt das erste Halbjahr 2019 wenig Erfreuliches erhoffen. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU per Ende März wird enorme wirtschaftliche Verwerfungen nach sich ziehen. Wer so tut, als würde der Abschied der zweitgrößten Ökonomie Europas den Rest der Union nicht beeinträchtigen, lebt in einer Irrwelt. Überschattet wird diese Unerfreulichkeit von einem Wahlkampf um das Europäische Parlament, der an Desinformation und Gehässigkeit von den extremistischen Rändern des politischen Spektrums alle bisherigen EU-Wahlkampagnen zu überbieten droht.
Vor diesem schwierigen Hintergrund ist der Ausblick, dass Europa mit einer weiteren Staatskrise an seinem östlichen Rand zu ringen hat, alarmierend. Denn um eine Staatskrise handelt es sich in Rumänien, nicht bloß um ein Gezerre zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten um die politische Macht. Man lese nur, was die Europäische Kommission, der man in dieser Hinsicht gewiss keinen Alarmismus vorwerfen kann, am Dienstag als rechtsstaatliche Hausübungen nach Bukarest schickte: Die jüngst beschlossenen Justizgesetze seien ebenso wie alle laufenden Verfahren zur Ernennung und Entlassung von obersten Staatsanwälten „unverzüglich“auszusetzen, die Änderungen am Strafgesetzbuch sowie an der Strafprozessordnung müssten „auf Eis gelegt“werden. Solche drastischen Forderungen stellt die Kommission nur, wenn der Rechtsstaat in einem Mitglied bis auf die Knochen abgeräumt zu werden droht.
Man könnte nun das wohlgeübte Wehklagen darüber anstimmen, dass Rumänien (und auch Bulgarien) vor elf Jahren zu früh in die EU aufgenommen wurden. Und es stimmt: Sobald ein Beitritts- kandidat drin ist, gibt es so gut wie keine Handhabe mehr, systemische politische Korruption und autoritäre Angriffe auf die Freiheitsgarantien zu bekämpfen. Das Verfahren nach Artikel 7 des Europäischen Vertrags droht als Schuss in den Ofen in die Geschichte Europas einzugehen, wie die Beispiele Polen und Ungarn zeigen.
Als Irrglaube hat sich auch das Credo vieler EU-Anhänger erwiesen, man könne in den postkommunistischen Gesellschaften gleichsam Demokratie und Rechtsstaat herbeisubventionieren. Rumänien hat seit seinem Beitritt rund 32 Milliarden Euro an Subventionen aus Brüssel erhalten. Und dennoch ist „Rumänien in seinem Reformprozess nicht nur stecken geblieben, es hat auch Rückschritte in Bereichen gemacht, in denen es in den vergangenen zehn Jahren Fortschritte gab“, wie Kommissionsvizechef Frans Timmermans am Dienstag klagte. D och dieses Lamento hilft nicht bei der Bewältigung der Krise. Es wird eines Zusammenwirkens mehrerer Maßnahmen bedürfen, um das Abgleiten mehrerer europäischer Länder in Richtung gelenkter Demokratie autoritärer Prägung zu bremsen: vom selektiven Einfrieren von EU-Mitteln bis zur schnelleren Lancierung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission. Arrogantes Oberlehrergetue ist dabei verzichtbar. Das verstärkt das Gefühl vieler Menschen in den neuen EUMitgliedstaaten, nur als Bürger zweiter Klasse zu gelten. Dieses Ressentiment wiederum dient den Demagogen in Bukarest, Budapest und Warschau als Nährboden ihres Ethnopopulismus.
Vielmehr sollte man das Gedenken an 1918 und die Tragik des Scheiterns der jungen Demokratien in Europa zum Anlass nehmen, den Kern der offenen Gesellschaft – sie bedingt wahre Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – klar zu benennen: Nur hier steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt politischen Strebens. Das gilt es zu schützen – im Westen wie im Osten.