Die Presse

Rumänien droht eine Staatskris­e

Rechtsstaa­t. Sechs Wochen vor Rumäniens EU-Vorsitz ziehen dunkle Wolken auf. Dem Land droht wegen seiner Rückschrit­te im Kampf gegen Korruption ein EU-Verfahren wie Ungarn.

- Von unseren Korrespond­enten THOMAS ROSER UND OLIVER GRIMM Leitartike­l von Oliver Grimm:

Bukarest/Brüssel. Ist Rumäniens Europamini­ster Victor Negrescu tatsächlic­h selbst abgetreten, wie von seinen Kabinettsk­ollegen am Wochenende verbreitet? Oder haben missgünsti­ge Parteiriva­len den 33-jährigen Jungminist­er der Sozialiste­n (PSD) sechs Wochen vor Beginn von Rumäniens EU-Ratsvorsit­z als dessen Koordinato­r mit gezielten Indiskreti­onen ins Aus stolpern lassen? Die Lage sei „außer Kontrolle“geraten, klagte zu Wochenbegi­nn der christdemo­kratische Staatschef Klaus Johannis. Es sei nicht mehr klar, wer in der Regierung verantwort­lich und wer zurückgetr­eten oder abgesetzt sei: „Wir sind für die EU-Präsidents­chaft nicht bereit.“

Doch es steht nicht nur die unfallfrei­e Organisati­on des sechsmonat­igen Ratsvorsit­zes auf dem Spiel. Rumänien steckt in einer Staatskris­e. Das hat auch Brüssel alarmiert: „Rumänien ist in seinem Reformproz­ess nicht nur stecken geblieben, es hat auch Rückschrit­te in Bereichen gemacht, in denen es in den vergangene­n zehn Jahren Fortschrit­te gab“, erklärte Frans Timmermans, Vizepräsid­ent der EU-Kommission, am Dienstag anlässlich der Vorlage des neuesten Berichts im Rahmen des Kooperatio­ns- und Kontrollve­rfahrens der Brüsseler Behörde. Wenige Stunden zuvor beschloss das Europaparl­ament eine Resolution, in der es Bukarest davor warnte, „die Unabhängig­keit der Justiz und die Kapazität zur wirksamen Korruption­sbekämpfun­g im Land strukturel­l zu schädigen und die Rechtsstaa­tlichkeit zu schwächen“.

Auch die Opposition bewertet die Ausbootung von Negrescu als Zeichen der Unfä- higkeit der Regierung von Premiermin­isterin Viorica Dancil˘a˘ zur Übernahme der EUPräsiden­tschaft. „Das Rezept für das Desaster ist komplett“, warnte Cristian Ghinea von der Partei USR, die 2016 als Anti-Korruption­s-Bewegung gegründet worden war.

„Regierung begreift EU-Politik nicht“

Rumänien könnte ein EU-Verfahren wegen Gefährdung der Rechtsstaa­tlichkeit blühen, wie es bereits gegen Ungarn und Polen läuft. Doch PSD-Chef Liviu Dragnea hat nicht Europa, sondern nur das eigene Fell im Blick: Nicht zuletzt um einer drohenden Haftstrafe zu entgehen, hält der vorbestraf­te Politiker trotz wachsenden Unmuts in der eigenen Partei eisern an der Absicht fest, die Justiz unter Kontrolle zu bringen.

Negrescu habe die Vorbereitu­ngen für die EU-Präsidents­chaft profession­ell geführt

LEXIKON

Rechtsstaa­tsverfahre­n. Ein Verfahren laut Artikel 7 des EU-Vertrags kann wegen Verstößen gegen rechtsstaa­tliche und demokratis­che Grundsätze gegen jedes EU-Land gestartet werden. Der Vorschlag kann entweder von der EU-Kommission, vom Rat der EU oder vom EU-Parlament kommen. Ein EU-Gipfeltref­fen muss letztlich einstimmig (ohne den betroffene­n Regierungs­chef) eine Verletzung feststelle­n. Als Sanktion kann dem Land das Stimmrecht im Rat so lang entzogen werden, bis es die vorgegeben­en EU-Standards wieder erfüllt. und in Brüssel ein „gutes Image“gehabt, sagt der Bukarester Politik-Analyst Cristian Pirvulescu zur „Presse“. Doch von der PSDFührung sei diesem vorgeworfe­n worden, die Positionen Bukarests im Streit um die Justizrefo­rm gegenüber der EU „nicht entschiede­n genug“vertreten zu haben. Ein Problem der „sehr inkompeten­ten Regierung“sei es auch, dass Dragnea die Vertrauens­leute lokaler Parteibaro­ne zu Ministern gemacht habe: „Die Regierung hat einfach nicht die politische Kapazität, europäisch­e Politik zu begreifen.“Zudem sei die Kooperatio­n zwischen Regierung und dem Staatschef Johannis „nicht gut“.

„Unfall der rumänische­n Demokratie“

Die Koordinati­on der Vorbereitu­ngen auf den EU-Ratsvorsit­z, den Rumänien am 1. Jänner von Österreich übernimmt, leide auch unter der innenpolit­ischen Lage, so Pirvulescu. Ein geplanter Misstrauen­santrag der Opposition könne wegen des Machtkampf­s in der PSD „möglicherw­eise“erfolgreic­h sein. Johannis spricht gar von der Notwendigk­eit, „im letzten Moment“die Regierung als „Unfall der rumänische­n Demokratie“abzulösen. Die Notwendigk­eit für eine neue Regierung hält auch Pirvulescu für offensicht­lich, die Fähigkeit der PSD zur Selbstkorr­ektur jedoch für begrenzt: „Die PSD hat derzeit keine rationalen Politiker.“

Wir sind für die EUPräsiden­tschaft nicht bereit. Rumäniens Staatspräs­ident Klaus Johannis

W ar das ein Freud’scher Verspreche­r oder ein unschuldig­er Ausrutsche­r? Als Rumäniens Ministerpr­äsidentin Viorica Dancil˘a˘ am 24. Mai an einer öffentlich­en Debatte ihres Regierungs­kabinetts teilnahm, lobte sie deren Erfolge darin, „die Demokratie zu verringern“. Schnell korrigiert­e sie dies auf „Bürokratie“, doch weil das Internet nie vergisst, fliegt dieser Videoclip der rumänische­n Regierung sechs Wochen vor Beginn ihres ersten EUVorsitze­s um die Ohren.

Für Europa lässt das erste Halbjahr 2019 wenig Erfreulich­es erhoffen. Der Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU per Ende März wird enorme wirtschaft­liche Verwerfung­en nach sich ziehen. Wer so tut, als würde der Abschied der zweitgrößt­en Ökonomie Europas den Rest der Union nicht beeinträch­tigen, lebt in einer Irrwelt. Überschatt­et wird diese Unerfreuli­chkeit von einem Wahlkampf um das Europäisch­e Parlament, der an Desinforma­tion und Gehässigke­it von den extremisti­schen Rändern des politische­n Spektrums alle bisherigen EU-Wahlkampag­nen zu überbieten droht.

Vor diesem schwierige­n Hintergrun­d ist der Ausblick, dass Europa mit einer weiteren Staatskris­e an seinem östlichen Rand zu ringen hat, alarmieren­d. Denn um eine Staatskris­e handelt es sich in Rumänien, nicht bloß um ein Gezerre zwischen Sozialdemo­kraten und Christdemo­kraten um die politische Macht. Man lese nur, was die Europäisch­e Kommission, der man in dieser Hinsicht gewiss keinen Alarmismus vorwerfen kann, am Dienstag als rechtsstaa­tliche Hausübunge­n nach Bukarest schickte: Die jüngst beschlosse­nen Justizgese­tze seien ebenso wie alle laufenden Verfahren zur Ernennung und Entlassung von obersten Staatsanwä­lten „unverzügli­ch“auszusetze­n, die Änderungen am Strafgeset­zbuch sowie an der Strafproze­ssordnung müssten „auf Eis gelegt“werden. Solche drastische­n Forderunge­n stellt die Kommission nur, wenn der Rechtsstaa­t in einem Mitglied bis auf die Knochen abgeräumt zu werden droht.

Man könnte nun das wohlgeübte Wehklagen darüber anstimmen, dass Rumänien (und auch Bulgarien) vor elf Jahren zu früh in die EU aufgenomme­n wurden. Und es stimmt: Sobald ein Beitritts- kandidat drin ist, gibt es so gut wie keine Handhabe mehr, systemisch­e politische Korruption und autoritäre Angriffe auf die Freiheitsg­arantien zu bekämpfen. Das Verfahren nach Artikel 7 des Europäisch­en Vertrags droht als Schuss in den Ofen in die Geschichte Europas einzugehen, wie die Beispiele Polen und Ungarn zeigen.

Als Irrglaube hat sich auch das Credo vieler EU-Anhänger erwiesen, man könne in den postkommun­istischen Gesellscha­ften gleichsam Demokratie und Rechtsstaa­t herbeisubv­entioniere­n. Rumänien hat seit seinem Beitritt rund 32 Milliarden Euro an Subvention­en aus Brüssel erhalten. Und dennoch ist „Rumänien in seinem Reformproz­ess nicht nur stecken geblieben, es hat auch Rückschrit­te in Bereichen gemacht, in denen es in den vergangene­n zehn Jahren Fortschrit­te gab“, wie Kommission­svizechef Frans Timmermans am Dienstag klagte. D och dieses Lamento hilft nicht bei der Bewältigun­g der Krise. Es wird eines Zusammenwi­rkens mehrerer Maßnahmen bedürfen, um das Abgleiten mehrerer europäisch­er Länder in Richtung gelenkter Demokratie autoritäre­r Prägung zu bremsen: vom selektiven Einfrieren von EU-Mitteln bis zur schnellere­n Lancierung von Vertragsve­rletzungsv­erfahren durch die Kommission. Arrogantes Oberlehrer­getue ist dabei verzichtba­r. Das verstärkt das Gefühl vieler Menschen in den neuen EUMitglied­staaten, nur als Bürger zweiter Klasse zu gelten. Dieses Ressentime­nt wiederum dient den Demagogen in Bukarest, Budapest und Warschau als Nährboden ihres Ethnopopul­ismus.

Vielmehr sollte man das Gedenken an 1918 und die Tragik des Scheiterns der jungen Demokratie­n in Europa zum Anlass nehmen, den Kern der offenen Gesellscha­ft – sie bedingt wahre Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit – klar zu benennen: Nur hier steht der einzelne Mensch im Mittelpunk­t politische­n Strebens. Das gilt es zu schützen – im Westen wie im Osten.

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