„NS-Zeit ist schon kalte Geschichte“
Unterricht. Zeithistoriker Oliver Rathkolb über politische Bildung in einer Migrationsgesellschaft, schwere strategische Fehler und einen Geschichteunterricht, bei dem der Blick fürs Ganze fehlt.
Zeithistoriker Oliver Rathkolb über einen Geschichtsunterricht, bei dem der Blick fürs Ganze fehlt.
Die Presse: Laut einer aktuellen Umfrage haben 74 Prozent der Österreicher in der Schule etwas über das KZ Mauthausen erfahren, jeder Vierte also nicht. Wie kann das sein? Oliver Rathkolb: Das ist ein Spiegelbild einer noch größeren Unkenntnis zeithistorischer Ereignisse und Entwicklungen. Das allgemeine historische Wissen ist sehr niedrig. Das Wissen zur NS-Zeit ist da im Vergleich sogar überdurchschnittlich hoch. Generell ist das Wissen im Sinkflug begriffen.
Vor allem bei Menschen, die nur eine Pflichtschule besucht haben, schaut es nicht gut aus. Das ist völlig richtig, und es ist ein schwerer strategischer Fehler der politischen Bildung. Wir setzen zu sehr im Elitenbereich an und vernachlässigen alle anderen Schultypen. Wir müssen weg von der Spitze, da läuft es eh sehr gut. Und dorthin, wo es große Lücken gibt: in die Neuen Mittelschulen, Berufsschulen, auch in die Volksschulen.
Wo kann Zeitgeschichte in der Volksschule Platz haben? Es gibt ja den Heimatkundeunterricht, der stark auf Landesidentität fokussiert. Das zu drehen und einige wirkliche Basisinformationen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln wäre vielleicht gescheiter, als die Türkenkriege auswendig zu lernen. Wenn man es ohne Horrormeldungen und altersadäquat macht, dann kann man Volksschülern auch die NS-Zeit näherbringen.
Wie wichtig ist politische Bildung in Zeiten vieler Migranten? Gerade vor dem Hintergrund einer Migrationsgesellschaft braucht es gute politische Bildung, um demokratische und gesellschaftliche Grundwerte zu vermitteln. Die traditionelle Geschichte mit Habsburgern, Erstem Weltkrieg, Nationalsozialismus greift da aber nicht. Da braucht man einen größeren Blick. Und da muss man zum Beispiel aus der Perspektive der Menschenrechte Themen wie Krieg, Verfolgung, freie Meinungsäußerung, Stellung der Frau aufgreifen.
Macht es beim Unterricht über die NS-Zeit einen Unterschied, ob ein Schüler österreichische oder ausländische Wurzeln hat? Immer weniger. Die Familienerinnerung, die noch in meiner Generation brühheiß war, ist heute kaum mehr ein Thema. Das ist schon kalte Geschichte. Man muss daher eigentlich bei allen neu ansetzen und versuchen, ein Gefühl dafür zu wecken, wie schnell eine Demokratie zerstört werden kann, wie schnell Stigmatisierung, Verfolgung und Ausgrenzung sogar zum Genozid führen können.
Politische Bildung soll nun in den Geschichteunterricht integriert werden. Eine gute Idee? Wenn es sich nicht in Formalunterricht erschöpft. Denn dann ist es wie Trockenschwimmen. Man kann politische Bildung abstrakt unterrichten, indem man brav die Verfassung in ihren zentralen Inhalten durchdekliniert. Oder ich schaue mir an, wann das schrittweise gebogen, missbraucht oder zerstört wurde und bringe es an die eigene Geschichte heran.
Was kann man als Lehrer bei politischer Bildung falsch machen? Manche haben Angst, dass sie in Parteipolitik hineingeraten.
Es gibt sogar eine entsprechende Meldeplattform von der FPÖ. Und in Deutschland hat das die AfD auch gemacht. Ich glaube aber, die Lehrer sind gut ausgebildet und wissen genau, wie sie damit umgehen müssen. Es geht nicht darum, den Schülern die eigene politische Überzeugung näherzubringen, sondern kritische politische Strukturgeschichte zu vermitteln. Und da sind die politi- schen Parteien ja nur ein Element unter vielen. Die große Herausforderung ist, ein Gefühl für die Bedeutung von liberaler parlamentarischer Demokratie zu erwecken.
Warum ist das so schwierig? Weil es so selbstverständlich ist. Und deshalb ist auch der Jahrestag der Ersten Republik ganz nützlich. Weil man auch merkt, dass die liberale Demokratie nicht vom Himmel gefallen ist. Es geht darum, dass man ein Gefühl kriegt, wie und unter welchen Rahmenbedingungen Demokratie erkämpft werden muss. Und wie schnell ein demokratisches System verschwinden kann.
Sind Sie mit dem Geschichteunterricht generell zufrieden? Ein Blick fürs Ganze wäre wichtig. Wir merken an der Universität, dass immer mehr sektorales Wissen vorhanden ist, das durchaus gut ausgebildet ist. Aber davor und danach gibt es keine Geschichte. Der kompetenzorientierte Unterricht hat zu einer zu starken Fragmentierung geführt. Da muss die Didaktik zurückrudern.
Was muss man ändern? Das frühere Extrem war das enzyklopädische Auswendiglernen von Jahreszahlen, von Julius Cäsar bis Kaiser Franz Joseph und dann noch ein bisschen Adolf Hitler, um es salopp zu formulieren. Jetzt sind wir beim anderen Extrem, dass man in den Lehrplänen Schwer- punktsetzungen gemacht hat und da versucht, exemplarisch in die Tiefe zu gehen. Da geht aber der Blick fürs Ganze verloren.
Haben Sie ein Beispiel? Natürlich kann ich mir die Jahre 1918 bis 1938 anschauen. Aber eigentlich brauche ich zumindest etwas Französische Revolution und auch ein bisschen von antiker Geschichte, um die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie bis heute zu analysieren. Und das geht leider derzeit verloren.
Wie viel Platz hat denn die Geschichte der Ersten Republik im Unterricht verdient? Sie ist insofern wichtig, weil sie die Gesellschaft gespalten hat. Und es ist wichtig, das differenzierter zu vermitteln, weil das ein Gefühl dafür gibt, dass man Situationen anders gestalten kann. Dass Geschichte gemacht wird. Wenn es gelingt, das zu vermitteln, dann ist viel gelungen. Denn damit wird ja auch aufgefordert, sich selbst in den demokratischen Prozess einzubringen.