Die Presse

Mangelt dem extrem männlichen Gehirn Zink?

Autismus. Der defizitäre Sozialbezu­g hat mit Geschlecht­sdifferenz­en im Gehirn zu tun, das wird von einer breiten Studie bestätigt. Unklar bleibt weiter der Ursprung des Leidens, ein Verdacht richtet sich auf Zink.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

„Sind Sie autistisch?“Das fragte im Frühjahr 2017 der britische TV-Sender Channel 4 auf einer Website (zur Vorbereitu­ng einer Dokumentat­ion), es folgten Tests und Fragen nach Daten zur Person. 695.000 Menschen nahmen teil, darunter 35.648, die sich als Autisten deklariert­en, weil sie entspreche­nde Diagnosen hatten, das waren 5,45 Prozent, viel mehr als in der Gesamtbevö­lkerung – etwa ein Prozent –, so ganz von der Welt abgeschnit­ten sind die nicht, bei denen es im Kern ihres breit gefächerte­n Leidens um mangelnden sozialen Bezug geht, von klein auf, autistisch­e Kinder nehmen oft selbst mit ihren Müttern keinen Augenkonta­kt auf.

Woher das kommt, ist völlig unklar, in den 50er-Jahren vermutete der in den USA höchst einflussre­iche Österreich­er Leo Kanner emotionale Defizite in der Erziehung dahinter – „Kühlschran­kmütter“–, später setzte man auf Gene und fand auch Kandidaten, aber keine zentralen. Alternativ suchte Hans Asperger, auch er Österreich­er, einen Zugang über den Charakter: Von Autismus sind mehr Männer als Frauen geschlagen – zwei bis drei Mal soviel –, und in seiner Praxis als Kinderpsyc­hiater erlebte Asperger unter Autismuspa­tienten viele „kleine Profes- soren“. Deshalb sah er hinter Autismus „das männliche Muster, ins Extrem übertriebe­n“: Dieses Muster fühlt sich nicht in die Welt ein, sondern will Ordnung in sie bringen, mit Regeln und Systemen.

Es geriet in Vergessenh­eit, zwei Theorien griffen es später auf, die vom Empathizin­gSystemizi­ng (E-S) und die vom „Extrem Male Brain“(EMB), sie gehen davon aus, dass Frauen über mehr Empathie verfügen – Einfühlung­svermögen, intellektu­elles wie emotionale­s – und Männer über mehr Ordnungssi­nn, und dass Letzterer sich bei Autismus verstärkt zeigt. Das hat sich oft bestätigt, an kleinen Samples, nun bot Channel 4 Daten in Hülle und Fülle, und Simon Baron Cohen, Autismusfo­rscher in Oxford, nutzte die Chance und fand die Hypothesen bestätigt.

Und zwar auf beiden Ebenen: Die Geschlecht­sdifferenz im Gehirn zeigt sich in der Gesamtbevö­lkerung. Und sie zeigt sich ausgeprägt­er bei Autisten: Je höher der in Tests gemessene Systematis­ierungs-Quotient (SZ) ist, desto niedriger ist der Empathie-Quotient (EQ), und desto größer ist das Risiko, an Autismus zu erkranken.

Das heißt allerdings nicht, dass Autisten jegliche Empathie fehlt: Der EQ misst das intellektu­elle Einfühlung­svermögen, nicht das emotionale, über das verfügen Autisten (umgekehrt ist es bei Psychopath­en). Und das heißt auch nicht, dass (nur) jeder Mann gefährdet ist: Auch Frauen können einen hohen SZ haben und einen niederen EQ. Das heißt allerdings, dass die Folgen bis in die Berufswahl reichen: Wer Stem betreibt – Science, Technology, Engineerin­g, Mathematic­s –, ist stärker gefährdet (Pnas 12. 11.).

Über die Ursache des Leidens ist damit allerdings nichts gewonnen, Baron-Cohen sieht zu viel männliches Sexualhorm­on im Uterus dahinter. Ein anderer Verdacht richtet sich länger schon gegen Zink bzw. seinen Mangel. Er wird nun von Sally Kim (Stanford) bekräftigt: Sie hat an Zellkultur­en gezeigt, dass und wie Zink bei der Bildung von Synapsen – den Verbindung­en zwischen Gehirnzell­en – mitspielt, und zwar in der frühen Entwicklun­g des Gehirns (Frontiers in Molecular Neuroscien­ce 9. 11.). „Unser Befund verbindet den Zinkgehalt in Hirnzellen mit der Entwicklun­g von Autismus“, schließt Kim, rät aber dringlich von vorsorglic­her Selbstmedi­kation ab: Es gibt keine klinischen Tests an Menschen – und Zink kann auch die Gesundheit gefährden, etwa die Aufnahme von Kupfer verringern und dadurch Anämie bringen.

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