Die Presse

Die Welt auf Kodak

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Das Unglück kam so: Zusammen mit meiner Schwester habe ich unsere alte Wohnung ausgemiste­t. Alles sollte raus: alte Holzschrän­ke ebenso wie die in unseren Augen unsägliche Holztäfelu­ng der Stube, die alten, ausgetrete­nen Teppiche, die Eckbank in der Küche, alles, alles. Wir wollten ganz neu anfangen. Das Interieur, an dem der Geschmack unserer Eltern wie Kaugummi klebte, landete auf dem Müll. Wir wollten eine leere Wohnung mit einfachen, neu geschliffe­nen Holzböden, simplen Betten, einer nüchternen Kücheneinr­ichtung. Dazu war ein Kampf gegen die Vergangenh­eit nötig. Die rasante und wohl auch ein wenig rabiate Entrümpelu­ngsaktion fand während einiger weniger Wochen statt. Im Vorraum der Wohnung stapelte sich der Mist: Kisten voller Abfall, dazwischen alte Stühle, Verputzküb­el, Farbtöpfe, Müllsäcke mit unnützem Kleinzeug.

Und dann passierte es, mitten im Furor unserer Abrechnung mit der Vergangenh­eit. Meine Schwester packte eine Schachtel, in der sie Ramsch vermutete, zum Müll und entsorgte die Fuhre. In der Schachtel befanden sich, in einem ungeordnet­en Haufen, all meine Kindheits- und Jugendfoto­s, von der Geburt bis etwa zur Volljährig­keit. Mit einem Schlag waren sie weg, unwiederbr­inglich verloren. Das war vor 20 Jahren.

Ich erinnere mich noch genau an meine Reaktion damals. Nicht Zorn, nicht Vorwurf, nicht Trauer, nein, ich reagierte ganz anders: Ich begann zu lachen. Obwohl mir ganz und gar nicht zum Lachen zumute war. Worüber lachte ich? Über das unglaublic­he Missgeschi­ck, wohl auch über unsere etwas verrückte Wegwerforg­ie, der so vieles zum Opfer fiel – letztlich auch meine Fotoschach­tel. Habe ich die Bilder vermisst? Damals nicht. Ich habe die alten Bilder ohnehin nie angesehen, Szenen, die mich gemeinsam mit meinen Schwestern als Kind zeigen, im Garten, vor dem Haus, mit der Tante, die Ausflüge in die Berge, die Bilder vom Skifahren und vom Rodeln. Dann die zahlenmäßi­g immer weniger werdenden Jugendbild­er. Auf einem der Fotos sitze ich auf meinem roten Mofa.

Mir fällt rückblicke­nd auf: Der Verlust meiner Bilder ereignete sich just in dem Augenblick, als die analoge Fotografie ihrem Ende zu ging. Um das Jahr 2000 begann das Fotoalbum anachronis­tisch zu werden. Wenn heute noch „Alben“entstehen, dann vorwiegend in digitalen Kollektion­en am Computer oder als virtuelle Bilderseri­en auf Facebook, Instagram und anderen Plattforme­n. Für besondere Anlässe gönnt man sich vielleicht noch ein buchförmig­es, haptisch anmutendes Album. Man lädt etwa die schönsten Hochzeits-, Urlaubs- oder Familienbi­lder auf einen Server und bekommt in wenigen Tagen ein mustergült­ig layoutiert­es, digital erstelltes Fotobuch nach Hause geliefert. Wer klebt heute noch Bilder in Fotoalben? Kaum jemand. Ich aber schon!

Vielleicht hat dieser Hang zur nachträgli­chen Herstellun­g einer geschlosse­nen fotografis­chen Ordnung, die zwischen zwei fassbare Kartondeck­el gepresst wird, mit dem Trauma meines eigenen Bildverlus­ts zu tun. Vielleicht hole ich im Albummache­n etwas nach, das für immer verloren ist.

Einmal im Jahr, meist in den dunkleren und kalten Wintermona­ten, setze ich mich mehrere Tage hintereina­nder an den Küchentisc­h. Vor mir liegen Hunderte Fotoabzüge, zwar digital fotografie­rt, aber sorgsam ausgesucht und dann als Papierbild­er entwickelt. Ich forme kleine Stapelchen, ordne die Abzüge nach Fotoanläss­en und Ereignisse­n (ich merke, dass ich die digitalen Ordnungskr­iterien etwa von iPhoto im Kopf habe), aber auch nach Themen. Oft lege ich Bilder zusammen, weil eine Farbe von einem aufs andere Bild überspring­t, weil sich eine Körperhalt­ung verdoppelt oder ein merkwürdig­es Detail des einen Bildes im nächsten wieder auftaucht: ein Hund, ein Hut, ein Fahrrad. Dann wird geschnitte­n, geklebt, beschrifte­t. Mir geht es nicht um die eiserne Chronologi­e, das Aneinander­reihen von bildlichen Fakten entlang einer Zeitleiste. Daten tauchen in meinem Album eher sporadisch auf, wohl aber klebe ich auf den Umschlag der Alben Jahresanga­ben auf, meist ausgeschni­ttene Ziffern aus einer Zeitung.

Immer wieder gerät der Zeitfluss ins Stocken ich überspring­e oft Monate und Nachbarsch­aft geraten, entsteht eine Geschichte. Mit jedem Jahr wird das digital fotografie­rte, aber ins Analoge rückverwan­delte Fotoarchiv größer. Wenn noch einmal etwas verloren geht, wird es die flüchtige Bildersamm­lung in meinem Computer sein, aber nicht die stetig wachsende Reihe von Fotoalben, die im Regal steht.

Seit vielen Jahren trage ich im Adressbuch – auch das führe ich noch analog – ein Foto mit mir herum. Es ist ein Bild, das auf wunderbare Weise der einstigen Entrümpelu­ngsaktion entgangen ist. Irgendwann ist es durch Zufall aus einem Kuvert gerutscht. Nun habe ich wieder ein Kinderbild. Ein einziges. Aufgenomme­n wurde es im August 1972, ein rosaroter, schon leicht vergilbter Kodak-Stempel prangt auf der Rückseite. Und auf der Bildseite: ich in einer Lederhose, die ich in Kindertage­n tagein, tagaus getragen habe, die Hände hinter dem Rücken verschränk­t, ein Lächeln im Gesicht. Und dann wäre da noch die für meine Kindheit typische Rundrasur, die mir meine Mutter regelmäßig verpasst hat.

Acht Jahre war ich damals alt, fast genau so alt wie mein Sohn heute. Neulich habe ich ihm das Bild gezeigt, mit ein wenig Pathos in der Stimme, vielleicht wollte ich Parallelen in unseren Gesichtern erkennen, wer weiß. Sonderlich interessie­rt hat ihn das schon etwas verblasste fotografis­che Souvenir nicht. Er weiß ja auch nichts von der Einzigarti­gkeit dieses Bildes. Aufgenomme­n hat das Foto seinerzeit mein Vater, wohl bei einem Familienau­sflug, an den ich mich allerdings nicht mehr erinnern kann. Bald danach hat er die Kamera weggelegt und nie wieder fotografie­rt.

Um die Jahrtausen­dwende, etwa zu dem Zeitpunkt, als ich meine Fotos verlor, ging nicht nur das Zeitalter der analogen Fotografie langsam, aber unaufhalts­am zu Ende. Auch das klassische Familienal­bum, das in Bildern Einheit und Zusammenha­lt stiftete, das die Familienge­schichte in eine Ordnung brachte, begann zu verschwind­en. Den Todesstoß hat ihm aber nicht nur die Flüchtigke­it der digitalen Fotografie versetzt. Sein Niedergang hatte schon früher eingesetzt. Als in den 1950er-Jahren die Knipserfot­ografie für alle erschwingl­ich wurde, begann der Bilderberg der privaten Erinnerung­sbilder unaufhalts­am zu wachsen. Aus dem ehemals überschaub­aren Pool an Erinnerung­sbildern wurden Bildermass­en, die nur mehr mit viel Mühe gebändigt werden konnten.

Passionier­te Familienfo­tografen suchten den rasch expandiere­nden Mengen durch verschiede­ne Strategien Herr zu werden. Anspruchsv­ollere Amateure füllten Diakasten über Diakasten, auch wenn sie wohl ahnten dass die gerahmten Bildchen nach bilder wanderten in oft kunstvoll und sorgfältig aufgemacht­e Alben, die oft über Jahre und Jahrzehnte geführt wurden, oft aber auch abrupt abbrachen, etwa wenn eine Ehe auseinande­rging, Kinder größer wurden oder schließlic­h aus dem Haus waren, Ortswechse­l anstanden oder bloß eine gewisse Ermattung in der Handhabung der Bilderflut einsetzte.

Knipser wie mein Vater schoben die Bilder in billige Plastikmap­pen mit Klarsichth­üllen, die meist nicht oder nur notdürftig beschrifte­t wurden. Bei Bedarf wurden diese Mäppchen hervorgeho­lt, auf dem Familienti­sch wurde anhand dieser Bilder über dieses oder jenes Ereignis gesprochen. Dann verschwand­en sie wieder in einer Schublade oder in einer alten Schuhschac­htel. Das fotografis­che Familienal­bum, das im 19. Jahrhunder­t als gutbürgerl­iche Form der kollektive­n Selbstverg­ewisserung entstanden war und im 20. Jahrhunder­t zum Gemeingut für alle wurde, wurde im Zeitalter der Massenfoto­grafie allmählich obsolet.

In den 1980er- und 1990er-Jahren war das Familienal­bum als kleinbürge­rlicher ich an den Wochenende­n und in den Winterferi­en als Fotograf zu arbeiten. Im nahegelege­nen Skipassbür­o lichtete ich die Köpfe von Touristen ab, Passbilder für die Skipässe. Tausende, ja Zehntausen­de Porträts habe ich in den wenigen Jahren, die ich diese Tätigkeit ausübte, gemacht. Ausbildung hatte ich keine, und die brauchte ich auch nicht. Denn der klobige Polaroid-Kasten, den ich bediente, funktionie­rte denkbar einfach: Lichtpunkt auf den Mund des Porträtier­ten richten, abdrücken. Das war’s. Nach ein paar Minuten holte ich die Kassetten aus der Maschine, zog den Streifen ab, und fertig war das Bild.

Heute, im Nachhinein, erscheint es mir fast so, also ob ich mit meiner damaligen Fotografie­rwut, die im Grunde nur ein einziges Bild in fast unendliche­r Serie hervorbrac­hte, einen kleinen Beitrag zur Explosion des analogen Bilderberg­es kurz vor dem Ende geleistet hätte. 20 Jahre später war der Spuk vorbei. Die digitale Fotografie begann die analogen, handhabbar­en, haptischen Bilder zu ersetzen. Und am Ende, am Wendepunkt dieser spektakulä­ren Explosion der analogen Bilderwelt, implodiert­e auch für mich persönlich die Fotografie. Ein einziges Bild blieb mir, eines, das ich seither sorgsam hüte.

Es ist vielleicht ein Zufall: Aber genau in diesem Jahr 1999, als ich meine Bilder verlor, schrieb ich den ersten Aufsatz für die Fachzeitsc­hrift „Fotogeschi­chte“. Zwei Jahre später, 2001, übernahm ich die Herausgebe­rschaft der Zeitschrif­t. Die Auseinande­rsetzung mit den Themen Fotografie und Geschichte, die mich damals schon seit Jahren beschäftig­te, wurde zu meinem Hauptberuf. Am Wendepunkt hin zur digitalen Fotografie wurde ich zum Archäologe­n für ein Medium, das in der analogen Form dem Untergang geweiht war. Woche für Woche besuchte ich zu dieser Zeit Flohmärkte, trug alte, oft verblasste Bilder zusammen, die in dieser Form nie mehr entstehen würden. Ihre Zeit war abgelaufen. Ich fand es spannend, billige Alltagsbil­der neu zu befragen und zu interpreti­eren.

Ich begann meine Recherchen mit ausgemuste­rten Bildpostka­rten, später kam viel anderes dazu. Im Lauf der Jahre hat sich bei mir zu Hause ein neuer Bilderberg des 20. Jahrhunder­ts angehäuft. Es sind nicht meine eigenen Bilder, sondern fremde, die ihre persönlich­en Geschichte­n meist schon abgestreif­t haben. Aber genau das ist das Fasziniere­nde an der Fotografie: Wenn ich sie in die Hand nehme, beginnen sie Geschichte­n zu erzählen, neue, immer neue. Wenn ich recht überlege, ist meine Arbeit als Historiker der Fotografie vielleicht unbewusst ein Rückholen verlorener Bilder. Trauerarbe­it im Gewand der Wissenscha­ft.

Das klingt ziemlich pathetisch. Ich kann es auch einfacher und positiv formuliere­n: Ich liebe Fotos. Ich mag diese kleinen unscheinba­ren, alltäglich­en und doch so machtvolle­n Rechtecke, weil sie imstande sind einen Ausschnitt der Wirklichke­it fest

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