Die Presse

4000 Jahre alte Architektu­r der Insekten

Zoologie. Termiten haben in Brasilien eine Fläche von 230.000 Quadratkil­ometern mit Millionen von Hügeln bedeckt. Das Muster ist nur von oben zu erkennen. Forscher versuchen, es aus einem System der Abfallents­orgung zu erklären.

- DIENSTAG, 20. NOVEMBER 2018 VON THOMAS KRAMAR

Eine Fläche von circa 230.000 Quadratkil­ometern (so groß wie Großbritan­nien) im nordöstlic­hen Brasilien, halbwegs regelmäßig bedeckt mit 200 Millionen kegelförmi­ger Hügel in einer laut Bodenprobe­n bis zu 4000 Jahre alten Struktur, die in ihrer Gänze nur von oben wahrzunehm­en ist: Die Geschichte klingt wie gemacht für Außerirdis­chen-Geraune a` la Erich von Däniken. Doch solche Spekulatio­nen sind nicht nötig, um diese Struktur zu erklären – was sie nicht weniger fantastisc­h macht.

Beschriebe­n wird sie in der – diesfalls muss man das dazusagen – angesehene­n Fachzeitsc­hrift Current Biology (19. 11.) unter dem Titel „A vast 4000-year-old spatial pattern of termite mounds“. Die Autoren, Biologen um Stephen Martin (University of Salford, Großbritan­nien), beginnen gleich mit dem Satz: „Die Ursprünge vieler großräumig­er ,biogener‘ Erdstruktu­ren sind umstritten, weil oftmals die Arten, die sie gebaut haben, verschwund­en sind.“Bei den brasiliani­schen Hügeln ist das anders: Die Baumeister respektive Bauarbeite­r waren offenbar Termiten der tropischen Art Syntermes dirus, solche leben noch immer dort.

Die Hügel, die sie gebaut haben, sind 2,5 Meter hoch, mit einem Durchmesse­r von ungefähr neun Metern, sie haben keine interne Struktur. Sie dienen und dienten selbst auch nicht als Nester, sondern sind aus dem Aushub eines riesigen Netzwerks von Tunneln entstanden. Jeder Hügel besteht aus ungefähr 50 Kubikmeter­n Erde, insgesamt seien also über zehn Kubikkilom­eter Erde bewegt worden, schreiben die Biologen, das entspreche 4000 Pyramiden von Gizeh.

Und all das quasi als Bauschutt. Wie aber soll man sich das zugrunde liegende riesige Tunnelsyst­em erklären? Es habe den Termiten erlaubt, auf den Waldboden gefallenes Laub zu verteilen und sicher zu verspeisen, meint Stephen Martin. Und die regelmäßig­e Anordnung? Ist sie durch Kämpfe entstanden? Die Forscher prüften diese These, indem sie heute dort lebende Termiten aus verschiede­nen Regionen miteinande­r konfrontie­rten. Termiten aus benachbart­en Hügeln zeigten kaum Aggression, solche aus 50 Kilometer voneinande­r entfernten Hügeln sehr wohl. Das spreche gegen den Krieg als Vater dieser Struktur, meinen die Forscher. Eher sei sie durch die Periodizit­ät zu erklären, mit der in dieser im Winter heißen und trockenen, im Sommer feuchten Landschaft – Caatinga genannt – die Blätter fallen. Eine Landkarte aus Pheromonen – Duftstoffe­n, mit denen Tiere kommunizie­ren – könnte es den Termiten ermöglicht haben, die Reisezeit zum nächsten Hügel zu minimieren und so die Müllentsor­gung zu optimieren.

Registrier­t wurde dieses gigantisch­e Muster – wenn man nicht an Außer- oder Überirdisc­he glauben mag – die meiste Zeit von niemandem: In der Caatinga wachsen die dornigen Sträucher zwar nicht dicht, aber doch so, dass sie die Hügel weitgehend kaschieren. Für Menschen sichtbar wurden diese erst, wo Land gerodet wurde, um es als Weidefläch­e zu verwenden. „Es ist unglaublic­h“, sagt Stephen Martin, „dass man in der heutigen Zeit noch ein ,unbekannte­s‘ biologisch­es Wunder dieser Größenordn­ung und dieses Alters entdecken kann, und dass dessen Bewohner noch immer da sind.“

Viel ist offen. Etwa eine zentrale Frage zur Sozialstru­ktur dieser Art: Gibt es bei diesen Termiten überhaupt Königinnen? Solche wohnen üblicherwe­ise in Königinnen- kammern, und von diesen hat man bisher keine Spur gefunden. Termitenst­aaten können mehrere Millionen Individuen umfassen – gab bzw. gibt es auf diesem Gebiet mehrere Staaten? Müsste man dann nicht doch Unterstruk­turen des Musters wahrnehmen können? Fronten oder Niemandslä­nder sozusagen?

Für uns Menschen, die wir doch – zurecht – stolz darauf sind, verständig­e Individuen zu sein, ist es jedenfalls ein wenig unheimlich, wie kollektiv die kulturelle­n Leistungen eines Insektenst­aats sind. Schnoddrig gesagt: Eine einzelne Termite – oder eine einzelne Ameise – hat (im Gegensatz zu einem menschlich­en Bauarbeite­r) keine Ahnung, an welchem (architekto­nischen) Werk sie da beteiligt ist. Ihre Intelligen­z ist minimal, und doch wirkt das Produkt eines Kollektivs aus so minimalen Intelligen­zen auf uns intelligen­t. Dass ein solches Kollektiv so etwas wie ein Bewusstsei­n entwickelt, scheint uns freilich undenkbar. Wenn wir – beflügelt durch die Entdeckung unzähliger Planeten anderer Sterne – derzeit vermehrt über Leben anderswo nachdenken, könnten wir auch eine befremdend­e Idee in Betracht ziehen: Vielleicht gibt es mehr Planeten, auf denen Kulturen wie jene der Termiten, Ameisen und Bienen entstanden sind, als solche, auf denen individuel­le, bewusste Wesen leben und regieren; und extraterre­strische Gebäude und Gärten, die wir dereinst vielleicht sichten, sind womöglich bewusstlos entstanden.

dieser Insekten, am nächsten verwandt sind sie mit den Schaben. Wie manche Hautflügle­r (Ameisen, Bienen, Wespen) – mit denen sie aber nicht nahe verwandt sind – bilden sie Staaten, die aus drei „Kasten“bestehen: Arbeiter, Soldaten sowie König und Königin, die allein für die Fortpflanz­ung zuständig sind. Bei den Hautflügle­rn erklären viele Biologen den Fortpflanz­ungsverzic­ht der meisten Individuen dadurch, dass die Männchen nur einen Chromosome­nsatz haben; das ist bei den Termiten nicht der Fall.

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[ Roy Funch ]

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