Israel nicht gegen Kritik immunisieren
Vermischt Kritik am Staat Israel nicht mit Antisemitismus! Ein Appell von 34 israelischen Gelehrten.
Im Kontext des EU-Ratsvorsitzes wird die österreichische Regierung am 21. November eine hochrangig besetzte Konferenz unter dem Titel „Europa jenseits von Antisemitismus und Antizionismus – Sicherung jüdischen Lebens in Europa“abhalten. Wir unterstützen den kompromisslosen Kampf der EU gegen Antisemitismus voll und ganz. Das Erstarken des Antisemitismus erfüllt uns mit Sorge (. . .) Das Erstarken des Antisemitismus ist eine reelle Gefahr und sollte der gegenwärtigen europäischen Politik ernsthaft zu denken geben.
Die EU steht aber auch für Menschenrechte ein und muss diese genauso energisch schützen, wie sie den Antisemitismus bekämpft. Die Bekämpfung des Antisemitismus sollte nicht dafür instrumentalisiert werden, legitime Kritik an israelischen Besatzungen und an schweren Verletzungen palästinensischer Menschenrechte zu unterdrücken.
Israels Premierminister, Benjamin Netanjahu, hätte auf der Konferenz in Wien sprechen sollen, bis er seine Reise absagte, um seine Regierung zu stabilisieren. Er hat hart daran gearbeitet, Kritik am israelischen Staat mit Antisemitismus zu vermischen.
Zu unserer tiefen Besorgnis sehen wir diese Vermischung auch in der offiziellen Ankündigung der Konferenz durch die österreichische Regierung. Dort heißt es: „Antisemitismus findet seinen Ausdruck sehr oft in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel.“
Diese Worte geben die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken wieder. Mehrere Beispiele für zeitgenössischen Antisemitismus, die sich der Definition anschließen, beziehen sich auf harsche Kritik an Israel. Im Ergebnis kann die Definition gefährlich instrumentalisiert werden, um Israel Immunität gegen Kritik an schwerwiegenden und verbreiteten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zu verschaffen – Kritik, die für legitim erachtet wird, wenn sie sich gegen andere Länder richtet. Das schreckt jedwede Kritik an Israel ab.
Die Ankündigung setzt außerdem Antizionismus mit Antisemitismus gleich. Wie allen modernen jüdischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts widersetzten sich jedem Zionismus auch viele Jüdinnen und Juden heftig, ebenso wie Nichtjuden, die nicht antisemitisch waren. (. . .) Es ist unsinnig und unangemessen, Antizionismus automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Staat Israel seit über 50 Jahren eine Besatzungsmacht ist. Millionen von Palästinenserinnen und Palästinensern unter Besatzung entbehren ihrer Grundrechte, Freiheit und Würde. (. . .) Es ist notwendiger denn je, dass Europa alle Versuche entschieden ablehnt, die freie Meinungsäußerung anzugreifen oder Kritik an Israel durch die falsche Gleichsetzung mit Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.
Europa muss dies auch für die eigene Glaubwürdigkeit tun. Die Ausweitung dieses Kampfes zum Schutz des israelischen Staates vor Kritik trägt zur Fehlwahrnehmung bei, dass Jüdinnen und Juden mit Israel gleichzusetzen seien und deshalb verantwortlich für die Handlungen dieses Staates wären.
Als israelische Gelehrte, deren Mehrheit jüdische Geschichte erforscht und lehrt, sagen wir zu Europa: Bekämpft den Antisemitismus unnachgiebig, um jüdisches Leben in Europa zu schützen. Haltet dabei die klare Unterscheidung zwischen Kritik am Staat Israel und Antisemitismus aufrecht. Vermischt nicht Antizionismus mit Antisemitismus. Und schützt die Rede- und Meinungsfreiheit derjenigen, die Israels Besatzung ablehnen und darauf bestehen, dass sie endet.