Westlichkeit als Asylgrund
Eine afghanische Familie erhielt Asyl, weil die Tochter die westliche Lebensart angenommen hat.
Wenn es einer ganzen Familie gelingt nach Österreich zu flüchten, und alle ihre Mitglieder hier Asyl beantragen, dann steht ihnen ein sogenanntes Familienverfahren offen: Erhält beispielsweise der Vater Asyl, so kommt dieser Status vergleichsweise unkompliziert auch allen anderen zugute (bei nachweisbarer Einreise über ein anderes Schengen-Land wäre allerdings jenes für die Asylverfahren verantwortlich). Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat jetzt über einen Fall entschieden, bei dem nicht primär die Kinder am Schutz eines Elternteils teilhatten, sondern umgekehrt eine Tochter dafür sorgte, dass auch ihre Eltern bleiben können – und erst davon abgeleitet auch ihre Geschwister.
Die sechs Afghanen hatten im November 2015 um Asyl angesucht. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) lehnte das ab, billigte ihnen aber den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu, die sich bis 12. Februar 2019 in Österreich aufhalten dürfen. Die Afghanen beschwerten sich daraufhin beim Bundesverwaltungsgericht gegen die abschlägigen Asylbescheide.
Mittlerweile erwachsene Frau
Tatsächlich anerkannte das Gericht die Flüchtlingseigenschaft aller sechs. Und zwar aus folgendem Grund: Die älteste, mittlerweile volljährig gewordene Tochter hätte in der Zwischenzeit – man schrieb den 6. Juni 2018 – eine „westlich orientierte“Lebensweise angenommen; deshalb drohe ihr in ihrer Heimat „mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrechtlich relevante Verfolgung“.
Gemeint ist eine Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung der Grundrechte der Betroffenen – es geht immer um Frauen – zum Ausdruck kommt; gefordert wird zudem, dass die Lebensart zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, „dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/ oder religiösen Normen zu entgehen“. So hat es der VwGH im Juli dieses Jahres in einem anderen Fall ausgedrückt (Ra 2017/19/0579). Betroffen war eine – nach Eigeneinschätzung – „moderne Frau“, die traditionell begründete Einstellungen in ihrem Heimatland und die sich daraus für Frauen ergebenden Zwänge ablehnte.
In Afghanistan unterdrückt
Die Frau ging gern allein aus, pflegte Freizeitaktivitäten, machte eine Ausbildung und wollte in naher Zukunft einen Beruf – etwa als Modedesignerin – ausüben. Das alles erschien in Afghanistan nicht mög- lich. Sie sei nicht bereit, sich erneut der Unterdrückung durch die afghanische Gesellschaft zu unterwerfen.
Lippenbekenntnisse reichen dafür aber nicht aus: Nach einer vom VwGH bestätigten Entscheidung des Verwaltungsgerichts muss dieser Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes „deutlich und nachhaltig“erfolgt sein. Die Behauptung, bei einer Rückkehr nach Kabul nicht mehr ohne männliche Begleitung Nordic Walking betreiben zu kön- nen, war für sich betrachtet kein Grund einer Frau Asyl zu gewähren (2017/18/0301).
Zurück zur afghanischen Familie: In ihrem Fall war die Zuwendung der Tochter zum westlich orientierten Lebensstil unbestritten. Das Bundesasylamt stieß sich stattdessen daran, dass die junge Frau zum Zeitpunkt der Entscheidungen des Verwaltungsgerichts bereits volljährig war. In seiner Amtsrevision gegen die Erkenntnisse zog das BFA deshalb in Zweifel, dass die Frau als Erwachsene überhaupt noch als eine Angehörige gilt, die die Anwendung des Familienverfahrens rechtfertigt.
Geschwister indirekt erfasst
Wie nun aber der VwGH entschieden hat, schadet es in dieser Situation nicht, wenn das Kind im Laufe des Verfahrens volljährig wird (Ra 2018/14/0040). Zu Recht sei deshalb im Kind-Eltern-Verhältnis das Familienverfahren angewendet worden. Blieb noch das Problem mit den um sechs, neun und zwölf Jahre jüngeren Geschwistern zu lösen: Denn diese gelten laut dem Gesetz untereinander nicht als „Angehörige“, denen das Familienverfahren zusteht.
Der VwGH ließ auch diesen Einwand im Ergebnis nicht gelten: Er wies darauf hin, dass die Eltern ja den gleichen Schutz wie die erwachsene Tochter und damit Asyl erhalten haben, und dass daher von ihnen abgeleitet auch die jüngeren Kinder geschützt sind. Auf diese Weise sei allen sechs der Status von Asylberechtigten zuzuerkennen; die Entscheidungen des VwGH sind also unangreifbar.
In der Praxis dürfen solche Konstellationen selten sein. In Bleiberechtsfällen, bei denen Fremde getrennt voneinander eingereist sind, besteht keine Automatik nach Art des Familienverfahrens.