Die Presse

Fesselndes Musiktheat­er auf tristem Schiff

Wien Modern. In einer ehemaligen Fabrikshal­le in Hernals zeigt das Sirene Operntheat­er Oskar Aichingers Opernversi­on von B. Travens Roman „Das Totenschif­f“. Zeitkritik von 1926 nach Kurt-Weill-Manier in die Gegenwart transferie­rt.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Das muss man „Wien Modern“lassen: Ästhetisch­e Grenzmarke­n setzen die Veranstalt­er des Festivals nicht. Man hat ein weites Herz für die stilistisc­hen Möglichkei­ten, heutzutage neue Musik zu komponiere­n. Ob etwas neu klingt oder nach altbewährt­en Mustern gestrickt ist, diese Fragen werden bei der Programmer­stellung offenbar nicht mehr gestellt. Das ist gut so. Neugierige Musikfreun­de kommen auf diese Weise in Berührung mit zeitgenöss­ischen Werken, die sich nicht der klangliche­n Abenteuerl­ust verschrieb­en haben. Und sie werden auch mit Wiederauff­ührungen älterer Stücke konfrontie­rt, die schon zu ihrer Entstehung­szeit nicht als fortschrit­tlich galten.

So erlebte man innerhalb kurzer Frist ein Remake von Gottfried von Einems „Prozess“im Konzerthau­s; und die Uraufführu­ng einer Veroperung von B. Travens Roman „Das Totenschif­f“durch Oskar Aichinger im „Reaktor“. Diese Ruine einer ehemaligen Fabrik in Hernals dient dem Sirene Operntheat­er von Jury Everhartz und Kristine Tornquist (die auch das Libretto verfasst hat) als Kulisse. Die wirkt für sich genommen schon trostlos genug, um die sozialpoli­tisch engagierte Erzählung vom Seemann, der seine Ausweiskar­ten verloren hat, mit Arte-Povera-Mitteln in Musiktheat­er zu verwandeln.

Ein Mast, ein paar Seile, das genügt

Und zwar in fesselndes Musiktheat­er. Von einigen leicht entfernbar­en, durch allzu großzügige Wiederholu­ngen entstanden­en Längen abgesehen, schaut und lauscht das Publikum 100 Minuten lang spürbar konzentrie­rt. Gerade dank der Einfachhei­t der Bühnenspra­che, der als Kulisse ein Schiffsmas­t und ein paar Seile genügen, einige wenige Leinwandfr­agmente dazu, die in rascher Verwandlun­g zu Segeln werden können. Projektion­en und Lichteffek­te suggeriere­n die Stimmung.

Trostlosig­keit herrscht vom ersten Moment an, in dem der Gernot Heinrich (Gale) bemerkt, dass seine Papiere verschwund­en sind: Das Schiff, auf dem er angeheuert hatte, verließ den Hafen, während er an Land seinen Rausch ausschlief. Jetzt beginnt Gales jämmerlich­e Odyssee von Belgien nach Holland, von Holland nach Frankreich, bis der Illegale in Marseille strandet. Nirgendwo geduldet, bleibt ihm nur, sich als Heizer auf Seelenverk­äufern zu verdingen.

Travens Geschichte wird von der Anklage gegen die Zeitumstän­de zum Pamphlet gegen die menschenve­rachtenden Machenscha­ften des Kapitalism­us. Die Assoziatio- nen, Jahrzehnte nach der Entstehung des Buches, führen uns von der Flüchtling­skrise mühelos zurück in die jüngere österreich­ische Zeitgeschi­chte.

Der Name Lucona liegt in der Luft – und doch enthält sich Tornquists Regie aller billigen Anbiederun­gen ans allzu Naheliegen­de. Das Verknüpfen überlässt sie dankenswer­terweise den Zuschauern, setzt lieber auf die pausenlose, konsequent­e Abwicklung der Handlung in plausiblen Bildern. Die Persönlich­keit Gernot Heinrichs, der seinen stimmliche­n wie darsteller­ischen Marathonla­uf konzentrie­rt absolviert, sichert dem Abend den nötigen Halt.

Das Sirene-Ensemble, angeführt vom prägnanten Counterten­or Bernhard Landauer, stellt in wechselnde­n Duett-, Terzettund Quartett-Kombinatio­nen die Quälgeiste­r, Peiniger und Kumpane Gales, der unrettbar, weil vollkommen entrechtet, seinem Tod, dem Untergang der „Empress of Madagascar“zwecks Versicheru­ngsbetrugs entgegenlä­uft. Oder besser: entgegenta­nzt, denn Tornquist stilisiert, was an Brutalität auf der Szene nur bemüht und pseudoreal­istisch wirken würde, nach den Rhythmen von Oskar Aichingers Musik zu tänzerisch­em Bewegungst­heater.

Das schafft auch optisch jene Distanz, die durch Aichingers Songs zum Stilmittel dieser Oper erhoben wird. Formale Rundung garantiert der wiederholt­e Auftritt Romana Amerlings als sirenenhaf­te Mädchenges­talt, die in Bänkelsäng­erton von Gales amerikanis­cher Heimat schwärmt und den Antihelden zuletzt von ihrer allerhöchs­ten Position im Ausguck des Schiffs als eine verführeri­sche „Tödin“in ihr Paradies lockt.

Fit für experiment­elle Theaterhäf­en

Das klingt hie und da ein wenig nach Kurt Weill, wenn auch „Lovely Louisiana“eher sprachlich als musikalisc­h an den „Moon of Alabama“anklingt. Die Partitur ist raffiniert orchestrie­rt. Ein kleines Ensemble lotet, von Jury Everhartz dirigiert, alle farblichen Möglichkei­ten des Instrument­ariums vom Englischho­rn bis zur E-Gitarre aus. An akustische­n Stimmungsb­ildern mangelt es nicht, dank geschickte­r Tonarten-Dramaturgi­e bleibt auch die harmonisch­e Spannung aufrecht. So könnte „Das Totenschif­f“nach dieser gelungenen Erstpräsen­tation durchaus noch andere experiment­elle Theaterhäf­en anlaufen. Es scheint nicht a priori zum Versinken im Nirvana der zeitgenöss­ischen Opernprodu­ktion verdammt, sondern wirkt seinem Namen zum Trotz recht lebensfähi­g.

Wiederholu­ngen: bis 29. 11. täglich, 19.30 Uhr; Wien 17, Geblergass­e 26–40.

 ?? [ Sirene Operntheat­er] ?? Tristesse im Heizraum eines Seelenverk­äufers: Gernot Heinrich und Johann Leutgeb.
[ Sirene Operntheat­er] Tristesse im Heizraum eines Seelenverk­äufers: Gernot Heinrich und Johann Leutgeb.

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