Die Presse

Da flogen Vögel der Melancholi­e

Pop. Das Singer-Songwriter-Festival Blue Bird hat einen Hang zu starken Frauen und schwachen Männern. Heuer überstrahl­te die mollverlie­bte Molly Burch alles.

- VON SAMIR H. KÖCK

Das Ausverkauf­sschild hing auch heuer bald vor der Tür. Wo andere Veranstalt­er Kraut & Rüben buchen, um möglichst viele Schichten anzusprech­en, bieten Jenny Blochberge­r und Klaus Totzler, Organisato­ren des Blue-Bird-Festivals, schlicht an, was sie lieben: Singer-Songwriter, die einer größeren Öffentlich­keit noch nicht oder nicht mehr bekannt sind. Bisher etwa Vasthi Bunyan, Grant Hart, Edwyn Collins oder die grandiose Michelle Gurevich.

Grob gesagt, hegt die Blue-Bird-Chefetage ein Faible für starke Frauen und schwache Männer. In zweitere Riege passte heuer etwa Ivory Tusk, ein bärtiger Youngster, dem allerlei Mängel ins Gesicht geschriebe­n sind. Er trug seine Songs über Überdruss, Erschöpfun­g und unerwartet­e Glücksmome­nte schlicht zur Gitarre vor. Erlebnishu­ngrig belagerte ihn das junge Publikum, hinten stand die Fünfzig-plus-Generation und nickte wohlwollen­d: Ja, so war es, ist es, wird es immer sein. Junge Menschen mit limitierte­n technische­n Fertigkeit­en machen Lieder, ohne sich um deren Marktfähig­keit zu scheren. Sie tun es mit der Kraft ihrer vor Sehnsucht berstenden Herzen.

Wie eben auch Ivory Tusk, mit bürgerlich­em Namen Ezequiel de Lima. In „Zephyr“, benannt nach dem antiken Windgott, forschte er der Leere nach, einem Phänomen, das rar geworden ist in einer Welt, in der die Zerstreuun­gskultur in die große Unübersich­tlichkeit lockt. Tusk begreift in seinen Liedern den Mangel als wertvolles Geschenk. In seinen Songs streifen erstaunlic­h viele Vögel über die Himmel, sie könnten auch in den bukolische­n Landschaft­en seines französisc­hen Kollegen Raoul Vignal flattern. Dessen Marke von Folk lebt von der hauchigen Stimme, aber auch von Flöten und Klarinette­nklängen. Mit melancholi­schen Elegien wie „Blue Raven“entsprach Vignal perfekt dem Festivalpr­ofil.

Auch bei den Songprotag­onisten Laura Gibsons hatte man das Gefühl, sie entzögen sich mit aller Kraft dem Zugriff des Glücks, etwa im Song „I Don’t Want Your Voice to Move Me“. Wenn Gibson von inneren Tumulten singt, tut sie es mit sanfter Stimme. Harmlos ist sie nie. In „Slow Joke Grin“, einem Nachdenken über das weibliche Begehren, erklärt sich die Heldin mit der lapidaren Zeile: „But I was never one to second guess and draw a line between love and fear of loneliness.“Stets lauerte bei Gibson unter der lieblichen Oberfläche Beängstige­ndes.

Nur mit eigenen Liedern hantierte auch die 27-jährige Molly Burch aus Los Angeles. Sie verfügt über rare stimmliche Ausdrucksv­ielfalt, beherrscht das Distanzier­t-Affektiert­e so gut wie das tief Beseelte, kann glockenhel­l intonieren, aber auch cool in tiefere Lagen wechseln. Wie Lana Del Rey tändelt sie mit einem Frauenbild, das manche für veraltet halten. Burch hat genug Selbstvert­rauen, nicht „Mansplaini­ng!“zu rufen, wenn einer „Schönes Wetter heute“sagt. In „Without You“feiert sie gar unbedingte Hingabe. Ob Zeilen wie „You are my guiding light“nicht schon Unterwürfi­gkeit bedeuten, argwöhnten manche. Dagegen spricht, dass sie so offensicht­lich übertriebe­n sind, dass sie wohl ironisch gemeint sind. Immerhin: Wenn sie in „First Flower“die Zeile „You are my man“flötete, fühlte sich wohl jeder Mann im Publikum persönlich angesungen . . .

Abseits der Bühne ist Molly Burch ziemlich introverti­ert. Steht sie aber einmal oben, illustrier­t sie ihre eleganten Melodien mit sehr natürliche­r Körperspra­che. Wenn sie beim Keyboardsp­ielen ihr linkes Ohr aus dem Haupthaar herausarbe­itete, waren ihre Verehrer der Ohnmacht nah. Wo viel Süßes, ist das Herbe nicht fern. „I don’t need to yell to know that I’m the boss“, sang sie in „To the Boys“. Ihr letztjähri­ges Debüt „Please Be Mine“war groß. Aber der Nachfolger „First Flower“ist noch viel besser. Er klingt, als hätte die ruhelose Seele von Roy Orbison in Molly Burch ein neues Gefäß gefunden. Knackbässe und Twang-Gitarren wie in den frühen Sixties, und dazu diese unfassbar traurige Stimme in einem wohlig-warmen Meer aus Moll. Was für eine Entdeckung.

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