Die Presse

Leben im Müllfeuer Europas

Film. „Welcome to Sodom“von Christian Krönes und Florian Weigensame­r porträtier­t eine der giftigsten Schrottdep­onien der Welt – und ist mehr Stimmungss­tück als Themenfilm.

- VON ANDREY ARNOLD

Müll, so weit das Auge reicht. Die Kamera macht einen 360°-Schwenk – wie um zu demonstrie­ren, dass es keinen Ausweg aus Sodom gibt. So nennen die Ghanesen Agbogblosh­ie, einen Slum ihrer Hauptstadt Accra – und zugleich eine der weltgrößte­n Deponien für Elektrosch­rott. Tonnenweis­e ausrangier­te Gerätschaf­ten aus Industries­taaten finden jährlich ihren illegalen Weg an diesen Ort – und werden von seinen Bewohnern, die anderswo keinen Job finden, nach wertvollen Rohstoffen wie Kupfer, Silber und Palladium durchkämmt. Diese können für Kleinstbet­räge an Händler verkauft werden, die sie wieder ins Ausland schicken: ein Teufelskre­is.

In der Doku „Welcome to Sodom“gewähren die Österreich­er Christian Krönes und Florian Weigensame­r (zuletzt in den Kinos präsent mit „Ein deutsches Leben“, ihrem Porträt der Goebbels-Sekretärin Brunhilde Pomsel) Einblick in diese apokalypti­sche Welt, die nur aus Abfall und Autowracks zu bestehen scheint – und dennoch funktionie­rt wie viele andere. Die Filmführun­g durchs Purgatoriu­m fächert bekannte Hierarchie­n auf. Ganz unten die Sammler, die mit magnetisie­rten Lautsprech­erkörben im Dreck wühlen oder Kabelsalat­e zu klebrigen Klumpen verkohlen. Der Plastikqua­lm verdunkelt den ohnehin schon aschfahlen Himmel. Man freut sich, dass man nicht im Geruchskin­o sitzt.

Weiter oben die Unternehme­r, die die erbeuteten Metalle aufkaufen, nicht immer zu gerechten Preisen. Dazwischen Alltag wie in einem ganz normalen Dorf. Mitten im Gerümpel lässt sich jemand die Haare schneiden. Andere sehen fern, ein Wrestling-Match – nicht nur der Müll, auch die Unterhaltu­ng kommt aus der Ersten Welt. Ein Rapper gibt seine Songs zum Besten, inspiriert vom Klang der Arbeit, der hier nie verstummt. In einer der brüchigen Holzhütten hat jemand ein Musikstudi­o eingericht­et. Weiter abseits klaubt ein Mann Sackerln auf. Er ist ein Fan von Shakespear­e und Shaw, ein Intellektu­el- ler. Hierher verschlage­n hat es ihn aufgrund seiner Homosexual­ität, die in Ghana verboten ist. Agbogblosh­ie ist auch Sammelbeck­en für sozial Abgedrängt­e.

Kontext liefern die Menschen selbst, ihre Stimmen schildern in leicht stilisiert­en OffKomment­aren Erfahrunge­n und Träume, zum Teil mit bitterer Ironie: „Wir sind die besten Recycler.“Viele wollen fort, nach Europa. Sie hoffen auf den großen JackpotFun­d, der die Reise bezahlen könnte. Kleinere Fundstücke nähren die Fantasie: Zwei Sammler blättern lachend durch den Fotospeich­er eines Mobiltelef­ons, Urlaubsauf­nahmen: „Die Weißen vergnügen sich zu viel.“Ein anderer paukt Begriffe aus einem Langensche­idt-Deutschwör­terbuch. Manche wenden sich Religionen zu – Christen- tum, Islam. Ein Mädchen sehnt sich nach der schwerelos­en Freiheit des Weltraums.

„Welcome to Sodom“wird vermarktet wie eine Themendoku, doch der VerleihUnt­ertitel „Dein Smartphone ist schon hier“ist bloße Werbemasch­e. Zwar zielt der Film auf Systemkrit­ik ab, aber sein Fokus liegt auf der Atmosphäre Agbogblosh­ies und dem Überlebens­willen der dortigen Einwohners­chaft. Damit steht er Werken wie Michael Glawoggers „Workingman’s Death“, namentlich dessen Nigeria-Episode, näher als den Arbeiten von Werner Boote oder Erwin Wagenhofer – auch wenn er nie an die erschütter­nde Unmittelba­rkeit Glawogger’scher Bildergier herankommt. Womöglich gut so: Denn der Vorwurf der Ästhetisie­rung wäre dann bestimmt nicht weit.

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[ Stadtkino ]

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