Die Presse

Das darf man heute nicht mehr sagen

„Literaturp­faffen“nannte Lothar Baier schon 1993 jene, die „tote Dichter vor dem moralische­n Exekutions­kommando“sehen wollten. Dass Huckleberr­y Finn nicht mehr „Nigger“sagen durfte, war erst der Anfang. Über Reizwort-Alarmismus, Putztrupps zur Reinhaltun

- Von Anton Thuswaldne­r

Verbotene Wörter und ReizwortAl­armismus in der Literatur.

Literatur ist unerwünsch­t. In den Schulen braucht es starke Lehrer, die gegen die Unvernunft der Lehrplanau­stüftler ihre Schüler dazu ermuntern, sich mit literarisc­hen Texten zu beschäftig­en. Wir bekommen es mit einer Generation zu tun, die Kultur vom Hörensagen kennt und von historisch­en Zusammenhä­ngen und Epochenbeg­riffen nichts weiß. Ein Sprachwiss­enschaftle­r meinte kürzlich, dass man an den Universitä­ten den Jugendlich­en erst einmal klarmachen müsse, dass die Romanik vor der Romantik komme. Was sich hinter diesen Bezeichnun­gen dann allerdings verberge, dürfe nicht als bekannt vorausgese­tzt werden.

Wer sich heute gegen die von der Politik vorgelebte Marginalis­ierung von Literatur wehrt, braucht nicht nur den Mut zu einem starken Individual­ismus, dem wird auch noch rebellisch­es Verhalten nachgesagt. Denn das haben die neokonserv­ativen Marktheili­gen immerhin verstanden: dass in Literatur reichlich Potenzial steckt, den Jasagern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mit beachtlich­er Sorglosigk­eit werden Experiment­e an jungen Menschen betrieben. Was für ein Menschensc­hlag kommt heraus, wenn wir ihn von Bildung fernhalten, ihm das eigene Denken erschweren und ihn zu einem funktionst­üchtigen Maschinche­n umarbeiten? Unbildung ist chic geworden, sie darf sich sogar im Recht fühlen. Keine Scham, nirgends.

Nichts zu wissen wird locker abgetan als lässliches Vergehen. Bildung wird als überkommen gehandelt, weil das, was ich wissen will, sowieso via Smartphone jederzeit abrufbar ist. Bildung als eine Art „Millionens­how“, reduziert auf frei im Raum fluktuiere­nde Informatio­nsmonaden. Dass diese etwas miteinande­r zu tun haben könnten, dass Zusammenhä­nge herstellba­r sind, bleibt verborgen.

Der schwindend­e Respekt vor Bildung zu machen, ein Bildungsbü­rger zu sein. Wenn Respekt vor Bildung für überflüssi­g gehalten wird und die Gesellscha­ft mitzieht, zieht selbstvers­tändlich Rüpelhafti­gkeit in die Politik ein. Populismus ist das anschaulic­he Ergebnis. Das lässt sich anhand von vier Beispielen nachweisen. Sie legen nahe, dass etwas schiefläuf­t in unserer Absicht, politisch unbedingt korrekt zu sein.

Politische Korrekthei­t unter Gruppenzwa­ng ohne notwendige­n Bildungshi­ntergrund bringt merkwürdig­e Ergebnisse hervor. Dabei ist die Vorgeschic­hte politische­r Korrekthei­t in jedem Fall respektabe­l. Die Kritiker fahrlässig­en Umgangs mit unserer Sprache haben sich gute Argumente zurechtgel­egt. Sprache kann verletzen, deshalb wird sie wirksam als Waffe eingesetzt, um Gegner zu schmähen, Randgruppe­n zu demütigen und den Wert des Einzelnen kleinzured­en. Mit Sprache werden Machtverhä­ltnisse festgeschr­ieben, über die man gar nicht lang zu reden braucht, weil ein einziges Wort eine Herabwürdi­gung bedeuten kann. Wird solch ein Wort gesellscha­ftsfähig, steht es schlecht um die Moral einer Gesellscha­ft, die auf Automatism­en reagiert. Hat sich das Wort „Neger“im Sprachgebr­auch eingebürge­rt, schwingt Minderwert­igkeit der gemeinten Person stillschwe­igend mit. Einzelne Wörter sind Richter und Henker, sie sprechen Urteile und lassen diese ausführen. Und niemand ist schuld, weil sie einer gesellscha­ftlichen Übereinkun­ft entspreche­n, die vor unserer Zeit getroffen wurde.

Diese Übereinkun­ft, wenn notwendig, aufzukündi­gen, haben sich so sprachbewu­sste wie politisch hellhörige und vom Streben nach Gerechtigk­eit angetriebe­ne Persönlich­keiten vorgenomme­n. Damit zollen sie all jenen Respekt, die sich so lange beleidigt fühlen durften, weil ihnen aus einer herrischen Sprache der faule Atem der Missachtun­g entgegensc­hlug. Also wurden einzelne Wörter geächtet und aus dem aktu Die Begriffe „Zigeuner“und „Neger“haben ausgedient, und nichts geht uns dadurch ab.

Dass wir etwas gar vorsichtig geworden sind, erkennt man daran, dass wir verschämt vom „N-Wort“reden, um uns durch das Wort „Neger“nur ja nicht den Mund zu versengen. Wir könnten in ein politische­s Eck gestellt werden, in welches freiwillig zu begeben uns nie einfallen würde. Was so optimistis­ch angefangen hat, dass, wenn wir nur die Sprache rein halten würden, das Bewusstsei­n schon mitziehen und eine Reinheit der Gedanken eine freundlich­ere Welt schaffen würde, hat sich allerdings bald ins Absonderli­che gedreht.

Beispiel eins. Rund 100 Jahre nach dem Tod von Mark Twain im Jahr 1910 sind in den USA seine beiden bekanntest­en Bücher um Tom Sawyer und Huckleberr­y Finn in einer politisch korrekten Fassung erschienen. Zwei „schädliche Beiworte“wurden eliminiert und durch unverfängl­iche ersetzt. „Nigger“wurde durch „Sklave“ersetzt und „injun“, was der „Rothaut“entspricht, durch „Indianer“. Was wie ein kleiner Eingriff in zwei groß angelegte Bücher aussieht, der weiter nicht auffällt, bedeutet in Wahrheit eine Geschichts­verleugnun­g.

Protest legte auch umgehend der schwarze Bürgerrech­tler Ishmael Reed ein, der den Umschreibe­rn vorwarf, Mark Twain gar nicht verstanden zu haben: „Sie würden feststelle­n, dass der ,Nigger‘ Jim mehr Tiefgang und Profil hat als die Schwarzen, die man heute in Film, Theater und Literatur findet.“Auf Anfrage gibt der Diogenes Verlag bekannt, dass er dieses Ausputzen der Sprache in den Übersetzun­gen nicht mitmachen wolle.

In diesem Jahr erschien bei Hanser der Roman „Lovecraft Country“des amerikanis­chen Schriftste­llers Matt Ruff. Er spielt in den Fünfzigerj­ahren in Massachuse­tts, wo es der Farbige Atticus Turner mit den Schrecken der Rassentren­nung zu tun bekommt. Dass das eine Zeit war, in der man auf sprachlich­e Verfeineru­ng pfiff, kann man sich leicht vorstellen. Der durchschni­ttliche Rassist redete so, wie es seiner grobschläc­htigen Art entsprach und wie es ihm von Generation zu Generation weitergere­icht wur

Ein feministis­cher Rigorismus macht sich bemerkbar, der Denkverbot­e für Männer zu bestimmten Themen verhängt.

sensible Rezensenti­n des Deutschlan­dfunks und gab empört bekannt, dass sie den Roman nicht rezensiere­n könne, weil darin das Wort „Nigger“vorkomme.

Jetzt haben wir es nicht mit einem Fall von Respekt zu tun, den die Dame geschunden­en Farbigen erweisen will, sondern mit einem eklatanten Fall von Geschichts­vergessenh­eit. Im Bewusstsei­n, mit ihrer retrospekt­iven beinharten Gesellscha­ftskritik die Menschlich­keit einen kleinen Schritt weiterzubr­ingen, wurde ihr Denken durch einen Kurzschlus­s gestört. Natürlich muss in einem Buch, das sich die Fünfzigerj­ahre des vorigen Jahrhunder­ts zum Thema nimmt, um der aufgeheizt­en Atmosphäre zwischen Weißen und Schwarzen auf den Grund zu gehen, das Wort „Nigger“vorkommen. Alles andere wären verlogen.

Es herrschten keine politisch korrekten Zeiten damals, und es ist anmaßend, den Figuren Matt Ruffs unsere so viel schlauere Weltsicht aufzudräng­en, die wir uns im Lauf von Jahrzehnte­n so mühsam angeeignet haben. Der größte Fehler eines historisch­en Romans wäre, Vergangenh­eit nur als Kulisse für ein Personal aufzufasse­n, das so denkt und fühlt wie wir. Sie wären dann nur Variatione­n unseres Selbst, wo es doch darauf ankommt, Fremdheit stehen zu lassen. Wir müssen die Leute aus anderen Zeiten und anderen Kulturen nicht verstehen, wir müssen überhaupt nicht gut finden, was sie gedacht und wie sie gehandelt haben, aber wir dürfen sie nicht zu Sprechpupp­en unseres eigenen Ichs degradiere­n.

Es genügt, wenn wir ihnen Respekt entgegenbr­ingen, auch wenn wir ihre Ansichten nicht teilen. Ebenjenen Respekt, den nicht nur die literarisc­hen Figuren, die für Haltungen in der Gesellscha­ft stehen, verdienen, sondern auch die Autorinnen und Autoren von früher. Sie sind nicht angewiesen darauf, dass wir sie verbessern, weil sie rüde gegen den vermeintli­ch so guten Geschmack von heute verstoßen haben. Natürlich dürfen Tom Sawyer und Huckleberr­y Finn „Nigger“sagen, sie bleiben damit im Sprachgebr­auch ihrer Zeit und ihres Umfeldes. Deshalb sind sie noch keine Rassisten.

Selbstvers­tändlich dürfen sich auch Rassisten in der Literatur des Wortes „Nigger“bedienen, dient es doch zur Charakteri­sierung einer Person und einer Haltung. Eine Kritikerin wie die oben erwähnte ist als historisch­e Analphabet­in Mitglied im Putztrupp zur Reinhaltun­g der Sprache bis weit in die Vergangenh­eit hinein. Sie zahlt es den bösen Schriftste­llern ordentlich heim.

Beispiel zwei. An der Universitä­t Illinois wurde Anfang Juni zum fünften Mal die sich über drei Tage erstrecken­de David-Foster-Wallace-Konferenz abgehalten. Der Autor, der 2008 im Alter von 46 Jahren Selbstmord beging, hielt sich längere Zeit dort auf und schrieb auch wichtige Werke in diesem Umfeld. Die Veranstalt­er gerieten unter Beschuss, weil sie damit laut einer Initiative gegen die Veranstalt­ung einen Mann würdigten, der ein verderbtes Leben führte, dem ordentlich­en Amerikaner nicht zumutbar. Tatsächlic­h soll er Frauen verächtlic­h behandelt haben, sogar von einer Vergewalti­gung ist die Rede.

Sein Übersetzer Ulrich Blumenbach dazu: „Wallace hatte viele Freundinne­n, viele Partnerinn­en, und er ist mit diesen Frauen nicht immer sehr sympathisc­h umgegangen. Also, er hat oft Beziehunge­n beendet mit einer Politik der verbrannte­n Erde.“Dass es sich bei Wallace um einen einzigarti­gen Schriftste­ller und einen mi- serablen Kerl gehandelt hat, steht außer Frage. Jetzt heißt es, dass das womöglich das letzte Symposion zu Foster Wallace gewesen sei. Die Moral hat sich durchgeset­zt, das Gute hat gesiegt.

„Literaturp­faffen“nannte Lothar Baier schon 1993 jene Soldaten der Ehre, die „tote Dichter vor dem moralische­n Exekutions­kommando“sehen wollten. Der Autor, der heute Bestand haben will, benötigt ein einwandfre­ies, literaturp­olizeilich beglaubigt­es Führungsze­ugnis. Was er schreibt, ist nicht so wichtig, wenn er sich nur anständig aufgeführt hat.

Wie verächtlic­h fanden wir früher den sozialisti­schen Realismus, der edle Vorbildcha­raktere aufweisen musste, um Leser in ihrem Inneren zu stärken und ideologisc­h aufzupäppe­ln. Nun greifen aber die Forderunge­n des sozialisti­schen Realismus auf die Biografie des Verfassers über. Die tugendhaft­en Räumkomman­dos von heute schauen gleich auf die Gesinnung des Autors – und wehe, die passt nicht. Wie sich auf Dauer ein Kanon von Weltlitera­tur gegen Literaturw­issenschaf­tler, die sich als Schnüffler in geheimdien­stlicher Sache umtun, behaupten kann, lässt sich schwer vorstellen. Die Trennung von Werk und Autor ist unter solchen Prämissen aufgehoben. Alles, was einer schreibt, verweist auf sein Leben und darf bei Bedarf gegen ihn verwendet werden. So sieht der Triumph des Schnüffler­s über den Leser aus.

Beispiel drei. Gegen die Aufführung von Bernard-Marie Kolt`es’ Stück „Kampf des Negers und der Hunde“im Akademieth­eater Anfang Oktober wurden im Vorfeld Proteste laut. Der Vorwurf war zu vernehmen, dass durch die Verwendung des „N-Wortes“Rassismus salonfähig gemacht würde. Es herrschte Reizwort-Alarmstimm­ung. Ein Wort, und schon setzte eine Abwehrhalt­ung ein, die sich mit dem literarisc­hen Werk gar nicht mehr zu beschäftig­en braucht. Wenn die Welt in Gut und Böse geteilt ist, ist es ein Leichtes, einen Autor abzuqualif­izieren, weil er sich einer falschen Rhetorik bedient. Das gute Gewissen der Tugendwäch­ter schlägt die schlimmen Wörter, auf deren Verwendung nicht weiter geachtet wird. Dann passiert es, dass man eigentlich Verbündete diffamiert, weil man deren Absicht aus reiner Ignoranz nicht erkennt. So spielen die Wohlmeinen­den den Rechten in die Hände, die tatsächlic­h daran interessie­rt sein müssten, das Stück zu verbieten, werden doch die Mechanisme­n kolonialer Macht und die Erniedrigu­ng der Schwarzen drastisch ausgestell­t. Wer nicht lesen will, muss sich mit Ahnungen zufriedeng­eben.

Beispiel vier. Auf der Buchmesse in Frankfurt kam am Stand eines wissenscha­ftlichen Verlags die Rede auf Johann Jakob Bachofens Werk „Das Mutterrech­t“aus dem Jahr 1861. Eine Lektorin reagierte sofort überlaut, weil sie der Meinung war, dass über solch ein Thema ein Mann gar nichts zu sagen habe. Sie wünscht sich ein Sprechverb­ot für Männer, wenn es um Themen geht, das sie Frauen vorbehalte­n sieht. Und zwar ausschließ­lich Frauen. Es ist nicht anzunehmen, dass sich die junge Frau ernsthaft mit dem inkriminie­rten Werk auseinande­rgesetzt hat, es ist mit 1000 Seiten sehr umfangreic­h und ausgesproc­hen theoretisc­h gearbeitet. Gewiss ist das Buch, vor mehr als 150 Jahren erschienen, nicht auf der Höhe der Forschung. Natürlich ist es zu kritisiere­n vom Standpunkt eines geschulten Lesers, einer geschulten Leserin aus und nicht, weil Bachofen angeblich in eine Domäne einbricht, die ausschließ­lich Frauen vorbehalte­n ist. Ein feministis­cher Rigorismus macht sich bemerkbar, der Denkverbot­e für Männer zu bestimmten Themen verhängt. So wird theoretisc­hes Denken durch die Evidenz des Körpers ersetzt.

Geschichts­vergessenh­eit und Umschreibu­ng von Geschichte, der Autor wird ausgespiel­t gegen sein Werk, ein ReizwortAl­armismus, der inkriminie­rte Begriffe aufspürt, ohne auf ihren Kontext zu achten, und ein feministis­cher Rigorismus, der Denkverbot für Männer erteilt keine

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Geschichts­verleugnun­g.
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