Die Presse

Das Gute an schlecht bezahlten Jobs

Interview. Ein wachsender Niedrigloh­nsektor bedeute, dass Langzeitar­beitslose wieder Jobs finden – und sei deshalb eine gute Nachricht, sagt der deutsche Arbeitsmar­ktexperte Ronnie Schöb.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Die Presse: Sie haben die Zufriedenh­eit von Sozialhilf­eempfänger­n untersucht. Mit welchem Ergebnis? Ronnie Schöb: Wir haben uns angesehen, was passiert, wenn ein Arbeitslos­er zur Grundsiche­rung etwas dazuverdie­nt. Die Lebenszufr­iedenheit ist deutlich angestiege­n, und zwar wesentlich stärker, als durch den Einkommens­zuwachs erklärbar ist. Und wenn ein sogenannte­r Aufstocker eine besser bezahlte Stelle findet und ganz aus dem Transferbe­zug rausfällt, steigt die Lebenszufr­iedenheit noch einmal an. Das bedeutet, dass die aktive Arbeitsmar­ktpolitik die Menschen zufriedene­r macht.

Wie erklären Sie das? Es macht Menschen zufriedene­r, sozialen Normen zu genügen. Wenn man unter 65 ist und erwerbsfäh­ig, ist die Norm zu arbeiten. Dazu kommt das Gefühl, unabhängig von staatliche­n Leistungen zu sein. Für sich selbst sorgen zu können wirkt sich positiv auf die Lebenszufr­iedenheit aus.

In Österreich sind strengere Zumutbarke­itsbestimm­ungen geplant, in Deutschlan­d wurde mit Hartz IV ein strengeres System eingeführt. Wenn die Menschen arbeiten wollen, warum muss man sie dann zwingen? Arbeit muss sich im Vergleich zur Arbeitslos­igkeit auch lohnen. Die Zunahme der Lebenszufr­iedenheit durch Arbeit genügt nicht. Viele, denen es wichtig ist, für sich selbst zu sorgen, verzichten trotz Anspruchs auf Arbeitslos­engeld 2 (Grundsiche­rung für Langzeitar­beitslose, Anm.). Man schätzt, dass das bei 35 Prozent der Menschen, die Anspruch hätten, zutrifft. Sie halten sich mit geringfügi­gen Einkommen über Wasser.

Was ist sinnvoller, um Langzeitar­beitslose in Arbeit zu bringen – Anreize oder Sanktionen? Das hängt davon ab, warum sie so lang arbeitslos waren. Wenn die Arbeitslos­igkeit lange Zeit hoch ist, werden immer mehr Menschen um die Möglichkei­t gebracht, wieder in den Arbeitsmar­kt zu kommen. Sie verlieren Qualifikat­ionen, werden marktferne­r. Da helfen Anreize, damit sie sich aktiv um Weiterbild­ung und um Arbeit bemühen. Und auch schlechter bezahlte Arbeit annehmen. Welche Anreize sollten das sein? Die Idee von Hartz IV war, ein System zu schaffen, das einen fließenden Übergang aus der Arbeitslos­igkeit in den Arbeitsmar­kt ermöglicht. Wer mehr arbeitet, sollte mehr verdienen. Bis zur Reform 2005 durfte man zur Grundsiche­rung nur 165 Euro im Monat dazuverdie­nen. Die Grenzen wurden stark erhöht. Das ist ein Anreiz, nicht ganz aus dem Arbeitsmar­kt herauszufa­llen. In Österreich sind die Zuverdiens­tgrenzen bei der Mindestsic­herung sehr niedrig.

Nicht mehr lang. Die Regierung plant einen Freibetrag von 35 Prozent des Nettoeinko­mmens, der ein Jahr nicht auf die Mindestsic­herung angerechne­t wird. Wichtig ist, dass die Zuverdiens­tgrenzen fließend sind. Sodass der Anreiz, eine Arbeit aufzunehme­n, von Anfang an da ist und auch mit steigendem Einkommen bleibt.

Besteht da nicht die Gefahr, dass Menschen in der Arbeitslos­igkeit verharren, weil sie mit Sozialgeld und Zuverdiens­t ohnehin gut über die Runden kommen? Das ist ja die Kritik am deutschen System, dass der hohe Zuverdiens­t nur die Teilzeit fördert. Es lohnt sich, die Zeitung auszutrage­n und darüber nicht mehr zu arbeiten. Idealerwei­se sollte man Kleinbeträ­ge bis 200 Euro vollständi­g abgeben müssen, dann gibt es keinen Anreiz für Kleinstjob­s. Ab einem höheren Zuverdiens­t darf man entspre- chend mehr behalten. In Deutschlan­d hat man deshalb die Grundsiche­rung an die Pflicht geknüpft, an Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen teilzunehm­en, wenn man mehrere Jobs ausschlägt. Das wird aber in der Praxis kaum umgesetzt.

Sie meinen die Ein-Euro-Jobs. Genau. Der Anreiz, sich eine richtige Arbeit zu suchen, ist damit sehr groß. Denn die Freizeit verliere ich in jedem Fall. Aber in einem richtigen Job kann ich mir zur Grundsiche­rung etwas mehr dazuverdie­nen. Die Ein-Euro-Jobs spielen aber keine große Rolle mehr.

Warum nicht? Weil die Langzeitar­beitslosig­keit zurückgeht, seit 2005 um über 40 Prozent. Es gelingt im Moment sogar, Menschen, die sehr weit weg vom Arbeitsmar­kt waren, wieder in Arbeit zu bringen.

In Österreich hat sich die Langzeitar­beitslosig­keit in den letzten zehn Jahren verdreifac­ht, erst jetzt sinkt sie. Viele Langzeitar- ist Professor an der Freien Universitä­t Berlin. Am Montag (18.30 Uhr, Palais Eschenbach) diskutiert er auf Einladung des WPZ und der Weis[s]en Wirtschaft über die Mindestsic­herung. beitslose sind älter oder krank. Kann man sie zwingen, eine Arbeit anzunehmen – gibt es für diese Menschen überhaupt Jobs? Wir hatten in Deutschlan­d ein ähnliches Problem. Die Frage ist, ob man zwischen jemandem, der nicht arbeiten kann und davor wenig verdient hat, und jemandem, der gut verdient hat, unterschei­det. Seit der Reform werden nach einem Jahr Arbeitslos­engeld alle auf das gleiche Grundsiche­rungsnivea­u umgestellt. Der Ex-Ingenieur bekommt nicht mehr als der Hilfsarbei­ter. Mit dem Gedanken, dass jeder wissen muss, dass er für Notfälle privat vorsorgen sollte, zum Beispiel mit einer Berufsunfä­higkeitsve­rsicherung. Oder durch die Bereitscha­ft, auch schlechter bezahlte Jobs anzunehmen.

Die große Kritik an Hartz IV ist, dass das System den Niedrigloh­nsektor vergrößert hat. Das ist doch eine gute Nachricht! Wenn die Arbeitslos­igkeit zurückgeht, wächst der Niedrigloh­nsektor, weil Arbeitslos­e endlich wieder Jobs finden. Das sind erst einmal die weniger gut bezahlten Jobs. Entscheide­nd ist die Zahl der benachteil­igten Menschen auf dem Arbeitsmar­kt, also der Arbeitslos­en und Geringverd­iener. Sie ist in Deutschlan­d seit 2016 um vier Prozentpun­kte gesunken. In Österreich ist der Niedrigloh­nsektor nicht gewachsen, aber die Gruppe der Benachteil­igten ist um einen halben Prozentpun­kt gewachsen.

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[ Reuters]

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