„Ohne Gott und Gewissen“
Südtirol. Der Friede war Ende 1918 heiß ersehnt worden, doch für Tirol begann damit ein traumatischer Prozess. Ein neues Buch schildert die Geschichte der Trennung des Landes.
Nach dem Krieg der Waffen kam der scheußliche Krieg der Geister des Hasses und der Gewalt.“Der Satz, den der Brixner Bürger Anton Just vor 100 Jahren niederschrieb, spiegelt die Empfindungen der Tiroler Bevölkerung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wider. Die Zeit des Friedens begann zunächst mit einem unbeschreiblichen Chaos, vor allem auf den passierbaren Strecken zwischen Bozen und Innsbruck. Alles, was man sah, war schrecklich: Die Plünderungen der Lebensmitteldepots durch unterernährte Soldaten, der desorganisierte Rückzug der ehemaligen k. u. k. Armee, ihre herumirrenden und schließlich verendenden Pferde, die Berge von Kriegsgerät, die neben den Straßen verstreut lagen. Ein damals Zehnjähriger aus Bozen erinnert sich: „Ich hätte beinahe meine Schwester Emma erschossen. Ich fand im Straßengraben ein Gewehr und spielte da- mit herum, hatte keine Ahnung, dass es scharf geladen und entsichert war. Ich ging in Stellung und drückte ab . . .“
Mit diesem überaus eindrucksvoll geschriebenen Kapitel beginnt das Historikerduo Marion Dotter und Stefan Wedrac seine Schilderung der Geschichte der Teilung Tirols unter dem Titel: „Der hohe Preis des Friedens“. Die Jahre 1918 bis 1922 bilden einen Bogen der Gewalt: vom aufgezwungenen Riss durch das Land bis zum Beginn der faschistischen Herrschaft.
Die Teilung des jahrhundertelang einheitlichen Tirols wurde schon oft erzählt, meist mit Blick auf die große Weltpolitik, die Belohnung Italiens für den Kriegseintritt aufseiten der Entente und das Friedensdiktat von Saint-Germain 1919 mit der Festlegung der Brennergrenze. Was das neue Buch auszeichnet und spannend macht, ist der alltagsgeschichtliche Zugriff, die Aufarbeitung persönlicher Quellen, die Erinnerung der Menschen, ihre Wut und Enttäuschung, ihr Leiden und ihre Ohnmacht.
Die Ereignisse vom November 1918 trafen die Südtiroler nämlich völlig unvorbereitet. Über Nacht brach eine Welt- und Werteordnung zusammen, die für sie als unerschütterlich galt. Sinnbilder von Auflösung gab es viele: „Als wir die Straßensteigung Sterzing – Brenner erreichten, sahen wir mit Entrüs- tung, dass verruchte Hände das Haupt der Statue Seiner Majestät Franz Josephs I. mit einem Stahlhelm, deren Gesicht mit einer Gasmaske bedeckt und auf die Schultern einen Rucksack gehängt hatten“, so ein schockierter Offizier.
Lang zurück ging der österreichisch-italienische Erbfeindschaftskomplex, der nun politisch und psychologisch in aller Härte ausgetragen wurde. Die Südtiroler waren bisher Teil einer staatstragenden Nation, kaisertreu und durch das „Randdeutschtum“in der Habsburgermonarchie aufgewertet wie die Kärntner, Sudetendeutschen und Steirer. Nun wurden sie herabgestuft zu einer unerwünschten deutschen Minderheit, zu Auslandsdeutschen, ein enormer Prestige- und Statusverlust. Schuld war die militärische Niederlage, die „tirolische Dolchstoßlegende“(Leopold Steurer) wies der österreichischen Militärbürokratie mit ihren „Salonoffizieren“und dem „Verrat“der Italiener die Verantwortung zu. „Ohne Gott und Gewissen gemacht“waren die Friedensverträge, so Anton Just.
Ende November 1918 war fast ganz Tirol unter italienischer Besatzung, nördlich des Brenners zunächst aus militärischen Gründen. Es handelte sich hier um eine respektund rücksichtsvolle Okkupation über zwei Jahre hinweg, ohne große Eskalation. Das größere Problem für die Nordtiroler noch vor dem welschen Erbfeind war der Hunger, man begann Nudeln aus Italien zu schätzen.
Knapp vor Weihnachten 1920 verließ der letzte italienische Soldat Nordtirol, nach Südtirol waren sie aber gekommen, um zu bleiben. „Mit Jubel wurden sie bestimmt nicht empfangen“(Josef Moser aus Bozen), doch man war „müde, müde“des Chaos, und zumindest herrschte jetzt Ruhe und Ordnung.
Ob die italienischen Soldaten wussten, dass sie mit Südtirol kein sehr italienisches Gebiet befreiten? Durch die nationalistische Propaganda war dieser falsche Eindruck entstanden, und sie wunderten sich über den kühlen Empfang. Die Südtiroler wiederum fühlten sich kulturell, sozial und moralisch überlegen, keine Spur von Inferioritätsgefühl, es kursierte der Witz: „Dass wir den Krieg gewinnen würden, war von Anfang an klar. Aber wer hätte gedacht, dass wir gleich ganz Italien erobern müssen.“
Die Geschichte der Teilung Tirols 1918–1922“, Verlag Tyrolia, 344 Seiten, 27,95 Euro
Spenden aus Italien lehnten sie in ihrem Groll ab, „in einem Zustand nationaler Depression und kollektiver Frustration“, so der Südtiroler Politiker Eduard Reut-Nicolussi. Als in Wien am 12. November 1918 die Republik ausgerufen wurde, gab auch in Bozen ein „Provisorischer Nationalrat für Deutsch-Südtirol“ein Amtsblatt heraus. Er wurde nach wenigen Wochen aufgelöst.
Solange die Friedensverhandlungen liefen, war Südtirol noch nicht offiziell an den italienischen Staat angeschlossen. Die Alliierten mit unüberlegten Aktionen zu reizen, war für Italien nicht sinnvoll. So ging man es gemächlich an, änderte auf Gemeindeebene kaum etwas. Doch Österreich-Ungarn existierte nicht mehr, so stand an der Spitze der Verwaltung General Guglielmo Pecori Giraldi, er hatte einen guten Ruf. Zu Recht, wie Dotter/Wedrac herausarbeiten: Er widersetzte sich den italienischen Nationalisten, die Südtirol rasch und radikal „italianisieren“und alles Deutsche am liebsten verschwinden lassen wollten, wie der Nationalist Ettore Tolomei, der „Vater der Brennergrenze“und Erfinder des Namens „Alto Adige“(„Hochetsch“) für Südtirol. Der Krieg war zu Ende, doch für ihn begann jetzt die neue „Schlacht“gegen ein autonomes, deutsches Gebiet. Das Ringen mit dem besonnenen Gouverneur Pecori Giraldi konnte beginnen.
Einsichtig werden die Gefühle der Tiroler nördlich und südlich des Brenners natürlich nur, wenn man auch die großen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge erklärt. Die beiden Autoren teilen sich diese komplexen Themengebiete auf, es gelingt ihnen ein spannend geschriebenes und schön bebildertes Buch, dem man dank seiner guten Lesbarkeit nicht anmerkt, dass es eigentlich ein Spin-off, ein „Ableger“eines großen österreichischen Wissenschaftsprojekts zur rechtlichen Bedeutung des Vertrags von Saint-Germain ist.
Italien und Österreich empfinden die Südtirolfrage heute nicht mehr als Belastung ihrer Beziehungen. Man hat einen zufriedenstellenden und vernünftigen Weg zur Lösung der Autonomiefrage gefunden. Nur die Geschichte vom „Land im Leid“(nach einer Formulierung von Claus Gatterer) aufzuwärmen, sehen die beiden Historiker daher nicht als ihre Aufgabe. Sie interessieren sich für Einzelschicksale, wollen die Tiroler von damals, die sorgfältig ihre Erlebnisse und Gefühle niederschrieben und deren Dokumente über Generationen von den Familien aufbewahrt wurden, dem Vergessen entreißen und ihnen so einen Platz in der Geschichte sichern.