Weil wir uns nicht gewöhnen dürfen
Vor einem Jahr hat Martin Pollack im „Standard“einen Text publiziert, der mir lange nachging, weil er auf merkwürdige Weise zugleich traurig und kämpferisch, abgeklärt und leidenschaftlich anmutete. Eine tiefe Niedergeschlagenheit, schrieb Pollack da, empfinde er nicht, weil ihn das Alter mit seinen weniger angenehmen Seiten behellige oder seine schwere Krankheit ihm zu schaffen mache. Nein, das deprimierende Gefühl der Ohnmacht fasse ihn an, wenn er sehe, was aus den Hoffnungen geworden ist, die nicht nur er mit den Umbrüchen des Jahres 1989 verband.
Martin Pollack hatte sich damals als Slawist, Redakteur und europäischer Fährtengänger schon seit zwei Jahrzehnten mit jenem abgeblockten Teil unseres Kontinents beschäftigt, der nicht nur hinter dem Eisernen Vorhang verborgen lag, sondern auch von einer Mauer der Ignoranz umgeben war. Wie nur wenige andere hat er einem anfangs nur mäßig interessierten, später staunenden Publikum des deutschsprachigen Raumes Geschichte, Kultur und Literatur jener Region nahegebracht, von denen viele bei uns glaubten, sie hätten kaum etwas zu bieten, das die Auseinandersetzung lohnte. Wenn er uns in seinen ersten Büchern der 1980er-Jahre nach Galizien und in die Bukowina führte und mit einem von ihm so genannten „Zwischeneuropa“bekannt machte, dann mussten dies, da durch Europa eine nahezu unüberwindliche Grenze schnitt, imaginäre Reisen sein; sie führten in eine verschwundene Welt, deren Bewohner zu Millionen der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen waren, über deren ausgelöschte Kultur aber auch nach 1945 der politische Bann auf der einen, der kulturelle Dünkel der Überlegenheit auf der anderen Seite verhängt waren.
Pollack trat also nicht mit dem selbstgefälligen Anspruch an, Neuland zu entdecken, sondern mit dem Wunsch, ein gewaltsam zum Verschwinden gebrachtes Land unserem Gedächtnis zurückzugeben – ein Land, das es einst gegeben hatte und dem er auf paradoxe Weise mit seinen imaginären Reisen durch Bibliotheken und Antiquariate eine reale Präsenz in unserem Bewusstsein verschaffte.
Ab den 1990er-Jahren kamen im bedachtsam sich entfaltenden Werk Pollacks zahlreiche Übersetzungen aus dem Polnischen dazu, die uns mit Autoren bekannt machten, ohne die wir uns die europäische Literatur gar nicht mehr vorstellen möchten, mit dem Reporter aller Reporter, Ryszard Kapus´cin´ski, mit Andrzej Stasiuk, Daniel Odija und vielen anderen. Es waren seine Spuren, auf denen Verlage und Redaktionen aufbrachen, ihnen bis dahin unbekannte Landschaften der Weltliteratur zu entdecken; Pollack hat wahrlich vieles und viele auf den Weg gebracht. Man begegnet, muss ich hier einfügen, in der literarischen Branche nur selten einem so großzügigen und hilfsbereiten Kollegen wie ihm, der zahlreiche Projekte und Publikationen angestoßen hat, ohne dass er darum besorgt gewesen wäre, als Initiator genannt, als freigebiger Anreger gewürdigt zu werden.
Zu seinen literarischen Landeserkundungen in Anthologien und Lesebüchern, mit denen er uns die Augen öffnete, gehören auch, ich sage es nicht ohne Stolz, jene vielen Dossiers, die er für die von Arno Kleibel und mir herausgegebene Zeitschrift „Literatur und Kritik“zusammenstellte; Hefte, in denen er die damals bei uns noch völlig unbekannte Reportageliteratur Polens oder die zeitgenössische Dichtung von Belarus vorstellte, die Rückkehr der Zensur in einige unserer Nachbarstaaten dokumentierte oder jene ukrainische Literatur präsentierte, die sich heute Geboren 1954 in Salzburg. Autor, Literaturkritiker, Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. Sein Text basiert auf der Laudatio die er dieser Tage anlässlich der sowohl der nationalistischen Mobilisierung als auch der russischen Aggression widersetzt.
Für Herausgeber ist Martin Pollack ein Glücksfall, wegen seiner legendären Zuverlässigkeit, seiner selbst in schwierigen Situationen nie preisgegebenen Professionalität und seiner, fast möchte ich sagen, monströsen Uneitelkeit. Vereinbart man mit ihm, dass er zu einem bestimmten Termin einen eigenen Text von sechs oder ein ganzes Dossier von 60 Seiten abliefere, kann man sicher sein, zum angegebenen Zeitpunkt exakt die vereinbarte Seitenzahl zu erhalten; egal, wie schwer es ihm fallen mag, bleibt er, der nie klagt, auch nicht, wenn er wahrlich dazu Anlass hätte, bei dem, was abgesprochen war.
Bekanntlich sind auf die imaginären Reisen, die Übersetzungen, die Anthologien jene Bücher gefolgt, mit denen Pollack relativ spät, ab der Mitte seines sechsten Lebensjahrzehnts, eine große Leserschaft erreicht, fasziniert, belehrt, erschüttert hat: von „Anklage Vatermord“aus dem Jahr 2002 zur „Topografie der Erinnerung“von 2016. Alle überschreiten sie die Grenzen der literarischen Genres. Pollack ist Historiker, der geduldig, nein, hingebungsvoll in Archiven recherchiert, ehe er zu schreiben beginnt, er ist Reporter, der sich aus den Archiven hinausbegibt und dort genau umschaut, wo seine Geschichten angesiedelt sind, er ist Erzähler, der kaum etwas erfindet, aber seine Bücher, die von überflüssigem stilistischem Zierrat befreit sind, mit hohem Kunstverstand komponiert. Die Unterscheidung zwischen Sachbuch und Belletristik, dokumentarischer und künstlerischer Prosa, vor seinem Werk erweist sie sich als lächerlich. Pollacks Bücher sind Recherchen, und alle, mögen sie in die Vergangenheit zurück- oder in entlegene Regionen hinausführen, erzählen zugleich von uns, von hier und von heute.
Dies gelingt dem Autor nicht über die billige Aktualisierung historischer Stoffe, sondern weil er im Vergangenen, ohne es didaktisch benennen zu müssen, das aufzuspüren vermag, was verheerend, zerstörerisch in unsere Gegenwart ragt: als das, was verschwiegen, totgeschwiegen wurde und gerade deshalb noch unser Leben von heute beeinträchtigt.
Unmittelbar spüren wir das natürlich, wenn Pollack die historische mit der familiären Erkundung verbindet. Ein Buch wie „Der Tote im Bunker“ergreift uns gerade deswegen, weil hier einer weder in kalter Distanz von furchtbaren Verbrechen der Vergangenheit noch mit brüsker Abwehr von den Verstrickungen der eigenen Familie berichtet. Indem er die Geschichte akribisch erforscht und sich mutig der eigenen Herkunft stellt, verbindet er das vermeintlich Objektive mit dem vermeintlich nichts als Subjektiven.
Ich glaube, die existenzielle Wucht dieses Buches gründet auch darin, dass Pollack nicht alle Dinge auserzählt, sich das Bild der Kindheit – repräsentiert in der Großmutter, die ihren Enkel liebend und bewundernd umsorgt, aber sich als fanatische Nationalsozialistin erweist – nachträglich weder schönredet noch es einfärbig schwarz malt, sondern die Tatsachen für sich sprechen lässt, ohne sie restlos auszudeuten.
In seinem eingangs erwähnten Zeitungstext, der das Eingeständnis, oft niedergeschlagen, traurig zu sein, mit dem Appell verknüpft, nicht aufzugeben, hat Pollack benannt, welche Hoffnungen von einst der Sorge, Enttäuschung, auch der Empörung gewichen sind. Er hatte damals, so wie manch anderer, gehofft, der Westen und der Osten, um es vereinfacht zu sagen, würden in der jetzt endlich möglichen Begegnung voneinander lernen können.
Der Zusammenschluss Europas erfolgte jedoch von der einen Seite als ökonomische Eroberung, und auf der anderen haben heute jene das Sagen, die ein zutiefst reaktionäres Weltbild propagieren und damit eine Wahl nach der anderen gewinnen. In Ländern, aus denen schon immer und erst recht im 20. Jahrhundert Hunderttausende auswanderten, um politischer Drangsal, religiöser Verfolgung, wirtschaftlicher Not zu entrinnen, wird jetzt ein nationalistisches Fieber angeheizt, in dem selbst der Zuzug von gezählten 450 Flüchtlingen, die in diesem Jahr in Ungarn gelandet sind, zur muslimischen Invasion und zur Gefahr für die abendländische Zivilisation gerät.
Was Pollack in jenen Ländern, die zu würdigen er einst angetreten war, als Gefahr erkennt und als historischen Rückschritt brandmarkt, darüber kann er, wenn er es auch bei uns entdeckt, natürlich nicht gleichmütig hinwegsehen. Pollack zählt nicht zu den Verächtern Österreichs, dazu hat er in seiner Zeit als Redakteur des „Wiener Tagebuchs“zu viele Widerstandskämpfer kennengelernt, die sich allesamt als patriotische Österreicher empfanden. Auch ist er schlichtweg zu weit herumgekommen in der Welt, als dass er etwas für die selbstverliebte Pose derer übrig hätte, die Österreich routiniert als Hort alles Bösen auszugeben pflegen.
Aber er ist auch kein Verklärer Österreichs, und so gilt, wie es ja auch sein soll, seine schärfste Kritik nicht dem, was anderswo geschieht, sondern dem Missstand im eigenen Land. Zu der Sorge, wohin sich Polen entwickeln mag, tritt die Empörung, dass in Österreich jedwedes politische, soziale, ökonomische Problem wieder und wieder einzig mit den Flüchtlingen und Asylwerbern erklärt wird und in der politischen Praxis wie in der alltäglichen Sprache längst eine Art von geradezu zweckfreier, weil völlig unnützer Bosheit das Maß der Dinge geworden ist.
Vor einiger Zeit hat der Bundeskanzler gemeint, dass jene, „die auf Salvini oder Orban´ herunterblicken, die Europäische Union zerstören“. Ich glaube nicht, dass irgendwer auf Salvini oder Orban´ hinunterblickt, ich kenne allerdings viele, die besorgt, entsetzt auf diese beiden hinschauen und, je genauer sie das tun, nur umso besorgter werden. Aber davon abgesehen, bin ich überzeugt, dass es brachiale Chauvinisten wie Salvini und Orban´ sind, die die Europäische Union zerstören, und nicht jene, die vor einem autoritäre Staatsumbau warnen. Martin Pollack hat es oft genug gesagt: Europäische Solidarität darf man nicht jenen bezeugen, die sich dieser verweigern, ja sie verächtlich machen, sondern mit den Hunderttausenden, die in Ungarn, Polen, der Slowakei und jetzt auch in Italien versuchen, der Politik der permanenten Verhetzung zu trotzen.
In seinem bereits zwei Mal erwähnten Artikel hat Pollack dazu geschrieben: „Wir dürfen nicht resignieren, nicht den Kopf einziehen und uns an die fatale Entwicklung gewöhnen. Unter keinen Umständen. Wir dürfen nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass die Demokratie in unserer Nachbarschaft demontiert wird. Gewöhnung ist wie ein schleichendes Gift, das Gehirne zersetzt und Menschen demoralisiert.“
Ich kann nicht zum Ende dieser Ausführungen gelangen, ohne einen großen Sprung zu machen und über einen Akt des Unrechts zu sprechen, der ein paar Tage lang die internationalen Medien beschäftigte und mittlerweile von uns allen vergessen zu werden droht. In dieser Stunde sitzt ein junger österreichischer Autor und Journalist in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis. Sein Name ist Max Zirngast, er ist 29 Jahre alt, studierte in Wien und zuletzt in Ankara, hat sich in die Türkei verschaut und fließend Türkisch zu sprechen gelernt, so wie das in beiläufig demselben Alter einst Martin Pollack mit Polen und dem Polnischen ergangen ist.
Von 1980 bis 1989 durfte Pollack wegen seiner kritischen Artikel und des begründeten Verdachts, dass er es mit den Dissidenten halte, nicht nach Polen einreisen; Max Zirngast darf aus der Türkei nicht ausreisen und seine Zelle nur zum täglichen Appell verlassen, weil er unter den behördlich erfundenen Verdacht geriet, der über jeden Kritiker der herrschenden Staatspartei verhängt werden kann, mit kurdischen Terroristen zu sympathisieren. Diese Anschuldigung ist eine der üblichen in einem Staat, der es als Verbrechen ahndet, andere als die amtlichen Nachrichten zu verbreiten, und der seit seiner autoritären Wende einen großen Bedarf an Geiseln hat, mit denen er deren Herkunftsländer zu erpressen beabsichtigt.
Man hört, dass unsere Regierung auf stille Diplomatie setze, und das ist auch gut so, aber es wäre dennoch verwerflich, würden wir selbst uns aus der Verantwortung stehlen mit der Ausrede, dass die Regierung, an der wir sonst so viel auszusetzen haben, die Dinge schon für uns richten werde. Nein, für Max Zirngast muss sich auch die Gesellschaft, nicht nur der Staat, müssen wir alle uns einsetzen, jeder auf seine Weise und mit den ihm gebotenen Möglichkeiten – und wir alle, indem wir den Politikern dort wie da zeigen, dass wir unseren jungen Landsmann nicht vergessen, sondern unverzüglich wieder in Freiheit sehen wollen.
Wir müssen das tun, weil es um sein Leben geht, aber auch um unseretwillen, weil wir uns nicht daran gewöhnen dürfen, dass Leute, die der offiziellen Propaganda widerstehen, dafür ins Gefängnis gesteckt werden, und weil wir nicht resigniert mit den Achseln zucken wollen, wenn schwer erkämpfte Rechte zuerst verächtlich gemacht und verhöhnt, dann eingeschränkt und endlich einkassiert werden.
Jean-Paul Sartre hat einmal gesagt: „Vielleicht gibt es schönere Zeiten; aber diese ist die unsere.“Und es ist schon so, bewähren kann man sich nur in seiner Zeit, nicht indem man heroisch durch die Krisen und in die Kämpfe von gestern zieht