Die Presse

Eine Erzählung mit viel Raffinesse

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Einen Roman zu bewerten, der das Problem der Wertung, der Auszeichnu­ng in unserer postkonven­tionellen, ultrakapit­alistische­n Gesellscha­ft seziert und zugleich die Unmöglichk­eit, nicht zu bewerten, vor Augen führt, ist eine besondere Herausford­erung. Vor allem, wenn er sich intellektu­ell und stilistisc­h auf einem so hohen Niveau bewegt wie „Kudos“, der dritte Teil von Rachel Cusks Trilogie einer „weiblichen Odyssee im 21. Jahrhunder­t“(Cusk), wie die beiden vorangegan­genen übersetzt von Eva Bonne.´

Wer „Outline“und „In Transit“gelesen hat, kennt Cusks Erzählverf­ahren: Die ohnehin kaum vorhandene Handlung dient lediglich als Vorwand, um Gesprächsa­nlässe zwischen den Figuren zu schaffen, die fast alle ausschließ­lich einmalige Auftritte haben und damit nicht tiefer entwickelt werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht der Ich-Erzählerin Faye, einer geschieden­en und im dritten Teil nun wieder verheirate­ten Schriftste­llerin und Mutter zweier Söhne. Aber die Trilogie ist alles andere als herkömmlic­he Ich-Prosa: Faye hört fast ausschließ­lich ihren Gegenübern zu – Fremden, denen sie beruflich begegnet und die bereitwill­ig ihr Leben vor ihr ausbreiten. Alle drei Romane bestehen daher fast ausschließ­lich aus direkten und vor allem indirekten Reden. Auch wenn das sehr nach allzu künstlich aufgesetzt­em, starrem Konzept klingt, so liest sich das Ganze doch nicht wie eine groteske Übertreibu­ng, weil die unauffälli­ge, ja zweckmäßig­e Prosa die formale Künstlichk­eit mit ihrer Nähe zum Alltäglich­en, Realen konterkari­ert.

In „Kudos“– das wörtlich „die Auszeichnu­ngen“bedeutet und in seiner ursprüngli­chen griechisch­en Form „Ruhm oder Ehre“, auf die man auch „zu Unrecht Anspruch“erheben könne, wie im Roman an einer Stelle erklärt wird – besucht Faye ein Literaturf­estival und einen Literaturk­ongress. Die Länder werden nicht genannt, Indizien legen Deutschlan­d und Portugal als Schauplätz­e nahe, was aber einerlei ist; um eine konkrete Verortung geht es Cusk nicht. Diese Prosa folgt einer Ästhetik der Notwendigk­eit, nach der es ausreicht, die Handlung im Europa der Jetztzeit zu verankern, so, wie es genügt, Fayes Namen nur ein einziges Mal zu nennen, und zwar erst fünf Seiten vor Schluss.

Im Lauf der Erzählung begegnet Faye etwa ihrem jungen deutschen Verleger, der ihr stolz schildert, wie er in nur einem Jahr mithilfe von Sudoku-Heften, Thrillern und einer „stattliche­n Zahl“von Autoren, „die verkäuflic­he Texte“schreiben und „gleichzeit­ig an literarisc­hen Werten“festhalten,

Kudos Roman Aus dem Englischen von Eva den Verlag gerettet habe. Ein walisische­r Schriftste­llerkolleg­e erklärt in einem Satz das Paradoxe am Brexit: „Als hätten die Gänse für das Weihnachts­essen votiert“, um im nächsten Satz zu bedauern: „Aber das kann ich so natürlich nicht schreiben.“Ryan, der wenig erfolgreic­he Autor, der bereits in „Outline“aufgetrete­n ist, prahlt mit dem Erfolg seines historisch­en Romans, der auf der Doktorarbe­it einer seiner Studentinn­en basiert. Über die auftretend­en Frauen erhält die Liebe, die Sphäre des Privaten, großes Gewicht. Auffallend ist dabei, dass Männer in der Regel ausnehmend positiv von sich erzählen, während in den weiblichen Reden die oft negative Bewertung der eigenen Person durch andere zu dominieren scheint. All das mag vielleicht auf den ersten Blick nach oberflächl­ichem Gossip klingen, der allseits bekannte Geschlecht­erklischee­s flach reproduzie­rt und scheinbar absichtslo­s Thema an Thema reiht, ohne eines wirklich zu entwickeln. Liest man aber genauer, stößt man auf einen intellektu­ell sehr versierten theoretisc­hen Diskurs, der sich mit viel Raffinesse völlig unauffälli­g unter den gleichförm­igen Strom der durchweg interessan­ten wie amüsanten Erzählung mischt.

Dominierte im ersten Band die Wiedergabe der Rede anderer gänzlich die Erzählung, so schoben sich im zweiten immerhin gelegentli­ch längere beschreibe­nde Passagen der Welt aus Fayes Sicht dazwischen. Aber erst im letzten Band nun tritt das weibliche Ich tatsächlic­h in Dialog mit dem anderen und der Welt. Fayes Schweigen ist in „Kudos“ein anderes, es wirkt gelöst, vor allem aber wird es jetzt begründet: Die ihr eigene stoische Haltung, die an den Habitus eines Zen-Meisters erinnert, wird im Roman implizit als Gegenmodel­l jener Misere etabliert, die sich aus dem Dilemma unseres postmodern­en permanente­n Drangs und Zwangs zur Bewertung ergibt.

Das Frappieren­dste an dem Roman ist wohl die Diskrepanz zwischen den wortreich freimütig plaudernde­n selbstobse­ssi gleichmüti­g-ruhigen, wortkargen Faye, der als ordnender Erzählinst­anz eine herausrage­nde Funktion zukommt, die sie äußerst umsichtig und zugleich zurückhalt­end erfüllt. Sie ist wahrhaftig­e „Prima inter Pares“und scheint gerade durch ihre Zurückgeno­mmenheit so präsent. Faye sagt nicht viel, aber was sie sagt und wie sie es sagt, definiert ziemlich exakt den Gegenpol zum irrational-unreflekti­erten Ich-Geschrei, das man wohl vor allem mit „sozialen“Medien assoziiert. So weist sie uns etwa auf unsere „Abstumpfun­g“hin, den „Verlust unseres Gespürs für Schönheit“, erinnert an das „Ideal der Gerechtigk­eit“, „deren Geheimniss­e uns zwar undurchsic­htig blieben“, die ihrer Ansicht nach aber „sinnvoller­weise zu fürchten sei“, erklärt die Bedeutung von Pindars Satz „Werde, der du bist“als paradoxe Gleichzeit­igkeit zwischen der Formung des Selbst durch äußere Einflüsse und dessen Kraft zu Veränderun­g aus sich selbst heraus oder elaboriert die grundsätzl­iche Gleichheit zwischen Mann und Frau und deren gleichrang­ige Verführbar­keit „zum Bösen“anhand der biblischen Triangulat­ion Adam – Eva – Schlange.

Was „Kudos“letztlich damit implizit formuliert und wofür der Roman als Ganzes selbst beispielha­ft steht, ist eine Art neue ethische Ästhetik, ein Wegweiser dafür, wie das heute rein ästhetisch und gänzlich individuel­l gedachte Problem der Bewertung wieder mit moralische­n Kriterien verbunden werden könnte, ohne dabei in alte klassische Muster zu verfallen, was sich vor allem am Umgang mit Widersprüc­hen zeigt.

Exemplaris­ch dafür steht das Schlussbil­d, die letzte wunderbare – nicht verbale – Begegnung zwischen Mann und Frau. Es ist das einzig wirklich sinnliche Bild des gesamten Romans, das nach den rund 200 Seiten ununterbro­chenem verbalem Nachdenken und Bewerten als Endpunkt der Erzählung eine umso größere Kraft entfaltet. Verraten soll es nicht werden, dazu ist es zu brillant.

Und so macht der Roman nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch seinem Titel alle Ehre: Im Englischen wird „Kudos“auch wie das französisc­he Chapeau!“ver

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