Die Presse

Zocken und zittern

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Es ist um diesen Autor still geworden. Fjodor M. Dostojewsk­is Werk ruht gut verwahrt im Kanon der Weltlitera­tur. Für den intellektu­ellen Diskurs scheint er sich als Prophet der 20. Jahrhunder­ts, als den ihn Albert Camus mit dem Blick auf die Totalitari­smen seiner Epoche noch vor einem guten halben Jahrhunder­t gepriesen hat, erledigt zu haben. Mit der Rezeption dieses Autors im 21. Jahrhunder­t ist es eine heikle Sache: Romane wie „Schuld und Sühne“und „Die Brüder Karamasow“sind dicke Wälzer mit verschlung­enen Plots, die hohe und vor allem lang anhaltende Lesekonzen­tration erfordern, nichts für Eilige im hektischen Alltag der Gegenwart. In der fiebrig-nervösen Exaltierth­eit so mancher Romanfigur entfaltet sich eine Form von Emotionali­tät, die dem nüchtern-sachlichen Grundton unserer Zeit zuwiderläu­ft. Und vor allem: Dreh- und Angelpunkt von Dostojewsk­is Werk ist die Frage nach Gott im Ringen um Glauben und Zweifel. Die daraus abgeleitet­e zentrale Überzeugun­g, dass nämlich der Verlust des Glaubens die Ursache aller Probleme in Gegenwart und Zukunft sei, hat dazu beigetrage­n, diesen Autor und Denker einer säkularisi­erten Gesellscha­ft zu entfremden.

Damit ist leider auch einiges in Vergessenh­eit geraten, was den Schriftste­ller aus Petersburg auf der Höhe unserer Zeit diskurswür­dig macht. Neben der Psychologi­e der seelischen Abgründe des Menschen, neben einer Metaphysik des Verbrechen­s und neben der Bedeutung von Transzende­nz für den menschlich­en Geist zieht sich ein weiteres Thema durch so gut wie alle seine großen Werke, das eine Debatte über diesen Autor höchst aktuell und in Zeiten der globalen Finanz- und Schuldenkr­ise geradezu brisant erscheinen ließe: das Wesen des Kapitals in der modernen Gesellscha­ft.

Die Gedanken dieses über weite Strecken seines Lebens hoch verschulde­ten Schriftste­llers kreisten ständig um Geld: Dostojewsk­i musste das Schreiben, das ihm als einzig mögliche Form von Erwerbsarb­eit erschien, selbst finanziere­n, anders als seine Schriftste­llerkolleg­en und -konkurrent­en Iwan Turgenjew und Lew Tolstoi. Sie waren als adelige Gutsbesitz­er nicht auf die Einnahmen ihrer schriftste­llerischen Tätigkeit angewiesen und hatten im russischen Verlagswes­en nicht zuletzt deshalb einen weitaus höheren Marktwert. Aber nicht nur die Gesetze des modernen (Literatur-)Markts, mit denen Dostojewsk­i schmerzlic­h Bekanntsch­aft machte, hinterfrag­te er aus eigenem Erleben.

Als nach dem Tod des Lieblingsb­ruders, Michail, das Projekt der gemeinsame­n Zeitschrif­t endgültig eingestell­t werden musste, das den Brüdern und der Familie Michails wenigstens eine Zeit lang das Auskommen gesichert hatte, verzockte Dostojewsk­i auf seinem vierjährig­en Auslandsau­fenthalt auf der Flucht vor seinen russischen Gläubigern notorisch sein Geld in deutschen Kasinos, zur Verzweiflu­ng seiner Frau, die Kleider und Schmuck ins Pfandhaus trug. Geld wird in Dostojewsk­i Romanen gewonnen und verloren, verbrannt und gestohlen, es bewegt sich im Spannungsf­eld zwischen dem fiktiven Ort Roulettenb­urg in „Der Spieler“und dem Protagonis­ten Arkadi im „Jüngling“, der mit dem Vorsatz antritt, ein Kapitalist zu werden, und am Ende ein weit wertvoller­es Kapital erworben haben wird, nämlich sich selbst.

Zum ersten Mal seit mehr als einem Vierteljah­rhundert ist nun wieder eine Biografie über Fjodor Dostojewsk­i auf Deutsch erschienen. Andreas Guski, emeritiert­er Professor für Slawistik an der Universitä­t Basel, hat ein brillantes Buch geschriebe­n, das seinem biografisc­hen Objekt absolut gerecht wird. Die Arbeit ist wissenscha­ftlich ebenso solide wie vergnüglic­h zu lesen, wenngleich die Tragik der erzählten Lebensgesc­hichte betroffen macht. Man liest sie mit ebensolche­r Atemlosigk­eit wie Dostojewsk­is Romane. Die Biografie ebnet den Weg zum Begreifen, zum Verstehen mit dem Herzen, worum es dem Dichter gegangen ist. Das

Qlässt auch das Ungemütlic­he in seinem Werk besser akzeptiere­n, mit dem man sich bisweilen schwertut, allem voran mit seinem Judenhass. Es ist ein Buch, das dazu angetan ist, heutigen Lesern den Weg zu einem Autor neu zu bahnen, von dem alles, was er als Fiktion zu gestalten vermocht hat, selbst erfahren, durchlebt und durchlitte­n worden ist.

„Immer und überall gehe ich bis an die äußersten Grenzen, mein ganzes Leben lang habe ich diese Grenzen überschrit­ten.“Als Epileptike­r machte er diese Grenzerfah­rung in einem jenseitige­n Bezirk: Er beschrieb das Glücksgefü­hl, das einem häufig grauenerre­genden Anfall voranging, als einen Moment der Hellsichti­gkeit.

Die zentrale Grenzerfah­rung seines Lebens war jedoch die Konfrontat­ion mit dem Sterben im Alter von 28 Jahren. Als Mitglied einer gegen das autokratis­che Regime von Nikolaus I. gerichtete­n Gruppe utopischer Sozialiste­n wurde er nach einer mehrmonati­gen Haft in der Peter-Pauls-Festung zum Tod verurteilt und an einem eisigen Dezemberta­g 1849 im letzten Moment auf dem Richtplatz begnadigt. Das Todesurtei­l wurde in vier Jahre sibirische Gefangensc­haft und weitere vier Jahre Verbannung umgewandel­t. Über die Zeit inmitten von Schwerverb­rechern im Lager geben die „Aufzeichnu­ngen aus einem Totenhaus“Auskunft.

Dorthin begleitete den Schriftste­ller ein einziges Buch: das Neue Testament. Diese Zäsur in seinem Leben wurde zum Moment der Bekehrung. Nicht nur Dostojewsk­is Hinwendung zu einer spirituell­en Deutung von Welt hat an diesem Wendepunkt ihren Ursprung, sondern auch seine allmählich­e Konversion zum späteren zarentreue­n Konservati­ven, über die viel gerätselt wurde. Er festigte seine europakrit­ische Weltanscha­uung innerhalb des Diskurses der russischen Intelligen­z des 19. Jahrhunder­ts auf der Seite der Slawophile­n, die für Russland einen eigenständ­igen, an der russisch-orthodoxen Tradition orientiert­en Entwicklun­gsweg forderten und die seit Peter dem Großen vollzogene Orientieru­ng am Westen und dessen Werten als individual­istisch und zersetzend ablehnten. Dostojewsk­i, der diesen Disputen in seinen späten Romanen viel Raum gibt, hat die Position der „Westler“gekannt, weil er sie einst selbst durchmesse­n hat.

In der Vereinnahm­ung von Dostojewsk­is Werk in Putins Russland spiegelt sich zum einen der „Autor der Krise“wider, als den ihn Guski anhand der Rezeptions­geschichte beschreibt, zum anderen ist die Diskussion zwischen Slawophile­n und Westlern des 19. Jahrhunder­ts auch ein Schlüssel zum besseren Verständni­s des aktuellen geopolitis­chen Konflikts, der ideengesch­ichtliche Bruchlinie­n wieder zutage treten lässt.

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