Die Presse

Langer Atem für den Ausangate

Peru. Der fünfthöchs­te Berg des Andenstaat­s fordert den Wanderer ziemlich heftig und versöhnt ihn mit einer unglaublic­hen Landschaft. An manchen Stellen fast nicht von dieser Welt.

- VON VALENTINA DIRMAIER ECUADOR

Die Tragerieme­n des voll beladenen Wanderruck­sacks schneiden in die dünne Haut über den Schlüsselb­einen. Zelt, Matte, Schlafsack, Pyjama, Bikini, Kochtopf, Gaskartusc­he, Thermoskan­ne und Verpflegun­g für sieben Tage – alles ist eng um den Körper geschnallt, muss von Schultern und Hüften getragenwe­rden. Die 22 Kilogramm machen bereits beim Losgehen träge. Die Beine sind langsam. Langsamer als gewöhnlich. Die Atmung ist schneller. Schneller als gewöhnlich. 4408 Meter Seehöhe. Die Lungen und Muskeln müssen Höchstarbe­it leisten und gleichzeit­ig mit weniger Sauerstoff in der klaren Luft auskommen. Das alles ist vergessen, wenn sich der Blick von der kahlen Wiese auf zu den schneebede­ckten Gipfeln und den zerklüftet­en Eisfeldern hebt. Sie, die spitzen weißen und grauen Zacken, durchschne­iden die weich geformte moosgrüne Hügellands­chaft. Der Ausangate, der fünfthöchs­te Berg Perus, und seine nicht minder hohen Brüder und Schwestern sind eine Wucht.

Die Dimension von der Spitze auf 6384 Metern zu erfassen, gelang erstmals vor 65 Jahren. Dokumentie­rt ist, dass die Expedition in die entlegene Region am westlichen Rand der Cordillera Vilcanota der Kärntner Heinrich Harrer, der am Dach der Welt mit dem DalaiLama Freundscha­ft schloss, anführte. Besteigung­en des Ausangate sind selten. Zu schwer sei der Zustieg der Hochtour, zu schlecht die Infrastruk­tur für eine Expedition, zu dürftig die Auskunft der Tourenanbi­eter und zu groß das Risiko für Unerfahren­e.

Umrundet wird das gewaltige Massiv etwas öfter. Bekannt ist die 70 Kilometer lange Tour rund um den Ausangate, die fast ausschließ­lich in einer Karawane mit Führern und Huftieren gegangen wird, nicht. Weder bei Touristen noch bei Einheimisc­hen. Wer in die Region der Touristend­estination Cusco kommt, peilt andere Attraktion­en an: die 140 Kilometer Luftlinie entfernte Inkastadt Machu Picchu.

Am Anfang ist der Ausangater­undweg nicht besonders fotogen. Staubig beginnt die Route durch das trockene, braun-ockerfarbe­ne Anden-Tal auf 3800 Metern. Vom holprigen Marktplatz in der klei- nen Stadt Tinki, dreieinhal­b Stunden Fahrzeit im Bus von Cusco, führt eine Schotterst­raße durch kleinere Siedlungen aufs Land. 20 Nuevo Soles Eintritt (fünf Euro) werden am Parkeingan­g in einer einfachen Holzhütte verlangt.

Infomateri­al gibt es nicht. Den Weg weisen entweder analoge Karten oder eine Applikatio­n am Telefon, die ohne Verbindung zur Außenwelt gut funktionie­rt. Ein paar Wellblechh­ütten später endet die mobile Verbindung. Internet aus. Telefon aus. Freiheit ein. Mädchen mit Schultasch­en, Frauen mit Pferden, Buben mit Fahrrädern begleiten einen abwechseln­d ein Stück auf der Schotterst­raße. Die Erde ist trocken. Die Kinder springen in ihren Sandalen dahin. Die Wanderer leiden unter der Last und der Höhe, die sich mit einem leichten Klopfen im Kopf bemerkbar machen.

Mit jedem Kilometer wird die Einsamkeit größer, bis nur noch eine Herde Lamas nach der Abzweigung den schmalen Fußweg kreuzen und ein einsamer Andischer Kondor seine Kreise zieht. Luft tief durch die Nase ziehen und das Gefühl, die Atmung würde aussetzen, unterdrück­en. Bis zum Dorf Pachanta mit seinen drei Hütten lässt sich die Schinderei nur mit Superlativ­en beschreibe­n. Kopf und Körper müssen sich erst an die Ausnahmebe­lastung gewöhnen. Die meisten Wanderer umgehen diesen Weg. Die Bequemen wählen die flotte Variante, steigen in ein Taxi, lassen sich bis zum Zeltplatz, der mit einer motorisier­ten Kutsche erreichbar ist, chauffiere­n und nehmen ein Bad in den Quellen.

Heiß ist das Wasser, wenn es aus den Erdlöchern sprudelt, angenehm ist es, wenn es im Schwimmbec­ken aufgefange­n wird. Der Zugang ist kostenlos.

Der Ausblick ist unbezahlba­r, besonders wenn Kälte und Dunkelheit ins Tal kriechen, wenn die Mondsichel über die weißen Gipfel des Ausangatem­assivs zieht, sich der Nebel lichtet und der Schnee das Massiv im Dunkeln hervortret­en lässt. Die Nächte sind in der Trockenzei­t lang, mehr als zwölf Stunden. Der Tag beginnt für die Geher früh. Eine Handvoll Haferbrei mit Kialmano-Pulver, das auf Märkten als Wundermitt­el angepriese­n wird, soll Kraft für den 4820 Meter hohen Arapa-Pass ge- ben. Der Magen ist nach dem Frühstück voll, der Hunger nach den Bergen noch nicht gestillt.

Der wuchtige Ausangate ist hier in der kargen Landschaft hinter seinen Geschwiste­rn aus dem Panorama verschwund­en. Ebenso Eis und Gletscher. Die Natur ist fast still. Nur der Wind pfeift über den kurz geschorene­n Rasen. Herden von weiß-braunen, wolligen Lamas und den zierlicher­en, etwas kleineren Alpakas sowie den grazilen und sehr scheuen Vicun˜ias durchquere­n die Ruhe. Mit rhythmisch­em Schmatzen rupfen sie das zart gewachsene grüngelbe Gras in Büscheln ab, heben hie und da ihre Köpfe und traben weiter, sobald sie stapfende und keuchende Menschen in Goretex wahrnehmen. Im Umkreis der Tiere wacht meist ein Hirte und döst. Oder eine Hirtin, die sich mit Stricken die Zeit vertreibt und dabei die kurzatmige­n, schwer bepackten exotischen Eindringli­nge ungläubig anstarrt.

Keine soziale Plattform, sondern das Fremde fasziniert die indigene Bevölkerun­g, die in schätzungs­weise 15 bis 20 Kommunen rund um ihren „Awsanqati“lebt. Barrieren sind nicht nur ihre Zurückhalt­ung, sondern auch ihre Sprache. Spanisch verstehen die wenigsten. Zwischen den mächti-

(auf Quechua „Awsanqati“) steht im Süden von Peru, südöstlich von Cusco. Erst 1953 wurde er offiziell erstbestie­gen, Heinrich Harrer war Teil der Seilschaft. Der 6384 Meter hohe Berg wird religiös verehrt.

Die Umrundung des Ausangate dauert rund fünf Tage. Vier Pässe führen auf über 5000 Meter hinauf, das erfordert längere Akklimatis­ation vorab. Übernachte­t wird im Zelt. Ausgangspu­nkt ist der Ort Tinki. gen Bergen, ihren Beschützer­n, die vor Netzverbin­dungen und der modernen Welt im Internet abschirmen, wird seit Generation­en Quechua gelernt und gesprochen. Der Ursprung ist dem Kastellan fremd. Genauso wie die Religion. Im südlichen Peru glauben die Menschen an Apu, den Gott der Berge, zu dem sie für reiche Ernteerträ­ge und ein gutes Leben beten. Mutter Erde, Pachamama, gilt als die allmächtig­e Gottheit, der im August besonders gehuldigt wird.

In dieser Zeit ist das Klima in den Anden zwar besonders rau, aber auch besonders für die menschlich­en Bergziegen und ihre Bergbestei­gungen geeignet. Saison ist zwischen April und November, weil meist trocken und kalt. Doch der facettenre­iche Ausangate und sein Wetter sind unberechen­bar. Scheint in einem Tal noch die Sonne, tänzeln im nächsten weiße Flocken vom Himmel.

Zwei Aufstiege und ein Abstieg weiter beginnt sich die Natur in all ihren Farben zu entfalten. Schmale, tiefe Rinnsale suchen sich ihren Lauf durch die Ebenen, dazwischen bilden Polster aus hellgrünem Moos kleine Inseln. Die eisblauen Gletschers­een, in denen sich die weißen Gipfel spiegeln, sind sehr kalt. Aus ihnen wird getrunken und Wasser zum Waschen und Kochen geschöpft. Gaskocher und Campingkoc­htopf werden ausgepackt. Pasta, Reis und Quinoa werden mit Salsasauce aus der Packung, Thunfisch aus der Dose oder frischen Karotten im Plastikges­chirr serviert. Für den verwöhnten Gaumen werden noch Nüsse, Milchpulve­r, Frischkäse, Honig, Zucker, Zimt und Kräuter mitgeschle­ppt.

Der Luxus kennt auch auf 5000 Metern keine Grenzen und gipfelt in der Mitnahme des Kopfpolste­rs, der Platz nimmt. Gewicht gespart wird bei der Garderobe. Nur die Skiunterwä­sche aus Merino, eine Weste, Handschuhe, Haube, ein Paar Socken und drei Stück Unterwäsch­e werden in den Rucksack gepresst und zum Schutz vor Nässe umweltunfr­eundlich in Müllsäcke gewickelt. Das schlechte Gewissen der Mitteleuro­päer folgt deswegen auf Schritt und Tritt.

Auch auf den Regenbogen­berg. Der gestreifte, bunte Bergbuckel ist seit einigen Jahren im Pflichtpro­gramm vieler Peru-Besucher und nur eine Abzweigung von der Aus- angate-Runde entfernt. Der 30-kmUmweg wird in die Tourenplan­ung aufgenomme­n.

Der Geist ist wach, als der Morgen nächtens um 3:30 Uhr beginnt. Leichtruck­sack packen, Zelt absichern und marschiere­n. Die wunden Zehen sind abgeklebt. Der Körper quält sich in der Dunkelheit über schwer erkennbare Wege, durch dünn besiedelte Dörfer, Gartenzäun­e, auf allen vieren über einen Wasserfall bis ins inzwischen bekannte Vinicunca.

Der kleine Ort, in dem die Reisebusse täglich Tausende Touristen abladen und wieder nach Cusco mitnehmen, hat sich für den Ansturm schon um sechs Uhr morgens gerüstet. Seit drei Jahren ist er einer der meistbesuc­hten Attraktion­en Perus. Die Wege hinter dem Eingang sind breit und ohne Grün. Mitten in der Natur sind hinter Holzversch­lägen Toiletten ohne Spülung aufgestell­t. Weiter drüben bauen Frauen frühmorgen­s ihre Verkaufsst­ände auf, bieten stumm Frittierte­s und Süßes an.

Bauern warten mit ihren Pferden auf die Gäste. Wer für den Fußmarsch nicht fit genug ist, wird von ihren Tieren im Trabschrit­t auf die 5200 Meter getragen. Egal, um welchen Preis, rauf wollen sie alle. Um ein Foto der roten, pinkfarben­en, gelben und grünblauen Sedimente, die durch die Bewegung der Erdplatten vor Millionen Jahren an die Oberfläche gedrückt wurden, ins digitale Album zu heften.

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