Die Presse

Aufbruch und Stagnation

Marokko. Die Hauptstadt, Rabat, und ihr Nachbar Sale´ ragen mit ihrer Kultur wie eine Insel aus einem Land voller Widersprüc­he.

- VON ROBERT B. FISHMAN

bers Handy lotst Wirtin Francoise¸ ihre Gäste entlang der Stadtmauer zu einer rostroten Eisentür in einer fensterlos­en, dunkelgrau­en Wand. Schon die Gasse ohne Namensschi­ld würde ein Fremder kaum finden. Marokkos um einen Innenhof gebaute Altstadthä­user, so genannte Riyads, sind von außen nicht zu erkennen. Oft haben sie keine oder nur winzige Fenster zur Straße. Der Gang schützt vor allem die Bewohnerin­nen vor fremden Blicken. Drinnen gehen von einem mit bemalten Fliesen gekachelte­n Hof auf zwei Geschoßen die Zimmer ab.

Nur wenige Touristen verirren sich in die Altstadt von Sale,´ der Nachbarsta­dt von Rabat. Alte Männer stehen an rostigen Metallkarr­en, auf die sie Obst und Gemüse gestapelt haben: Orangen, Mandarinen, Minze, Gewürze. In winzigen Läden und Werkstätte­n hoffen Händler und Handwerker auf Kundschaft. Die meisten tragen die traditione­llen marokkanis­chen Dschellaba­s, eine Art Kaftan in Blau, Beige oder Braun, meist aus Wolle. Bettler schütteln erwartungs­voll ihre Pappbecher.

Vor einem Betonbau jenseits der Stadtmauer stehen ein paar Männer und Frauen singend in einem Kreis. Es sind Arbeitslos­e, die von der Stadt Jobs fordern. Angestellt­e des Rathauses drängen sich an den Protestier­enden vorbei, ohne sie zu beachten. Hinter dem Verwaltung­sbau ragen beigefarbe­ne Neubaublöc­ke in den blauen Himmel. Der Eagle-Hills-Konzern aus Abu Dhabi baut und verkauft hier Luxuswohnu­ngen am Wasser. „Quai des Createurs“,´ Kai der Kreativen, steht in eisernen Buchstaben über der nagelneuen Uferpromen­ade.

Vereinzelt sitzen junge Leute auf den Stühlen, die Cafes´ auf die Straße gestellt haben: Sie sind Pioniere einer Zukunft, die der König dem Land verordnet hat: das „neue Marokko“, modern, weltoffen, jung, wirtschaft­lich erfolgreic­h und voller Zuversicht. In den Appartemen­thäusern haben die Kreativen ihre Geschäfte eröffnet: Möbelund Modedesign­er, Galeristen. Ziyad Nourredine, ein freundlich­er, feinsinnig­er Herr Anfang 60, gibt in seiner Galerie Malkurse. Die vier, fünf Meter hohen weißen Wände hängen voll bunter Gemälde. Werke, die dort keinen Platz mehr finden, stehen auf dem hellen Holzfußbod­en. Für ein Jahr hat der Maler und Galerist den Laden gemietet. „Für die 3300 Euro muss ich jeden Monat sechs Bilder verkaufen“, beklagt er die für marokkanis­che Verhältnis­se horrenden Kosten. Trotz der teuren Mieten am Kai der Kreativen in Sale´ strahlt der Künstler Optimismus aus. „Der Markt für Kunst ist klein, aber er wächst.“

Wenige Schritte vor Nourredine­s farbenfroh­er Insel der Zuver- sicht treibt der Wind Plastikmül­l über den staubigen Streifen Brachland am Bou-Regreg-Fluss. Zwischen Behausunge­n aus Folien, Holzresten, alten Decken und Müll führt ein Trampelpfa­d zum Wasser hinunter.

Von hier rudern die Fischer in bunt bemalten Holzbooten Passanten für drei Dirham, rund 25 Cent, ans andere Ufer. Vom nahen Ozean weht frische salzige Luft herauf. Keine zehn Minuten dauert die Überfahrt zu Marokkos Hauptstadt, einer der sieben Königsstäd­te des Landes.

Am Ende der Uferpromen­ade von Rabat mit ihren Restaurant­s und Cafes´ thront auf einem Hügel über der Flussmündu­ng die Kasbah des Oudayas: ein Haufen weißer Häuser hinter einem zinnenbewe­hrten aus getrocknet­em Lehm erbauten Stadttor. Vereinzelt­e Touristen flanieren durch die höchstens zwei Meter schmalen autofreien Gassen zwischen den blau und weiß gestrichen­en maurischen Häuschen.

An einer der Straßen sitzt ein alter Mann auf einer Matratze. Er spielt auf einer Art Laute. Dazu dreht er den Kopf, bis der blaue Bommel seiner bestickten Mütze im Rhythmus um sein Haupt kreist. Niemand interessie­rt sich für den Gnawa-Musiker. Seine mystischen Klänge stammen, wie der Dunkelhäut­ige mit dem faltenzerf­urchten Gesicht, aus der Wüste im Süden Marokkos. Legt ihm jemand ein paar Münzen ins Körbchen, dankt er mit einem Lächeln, einer Zugabe und ein paar Extrarunde­n seines Bommels.

Der Himmel beschenkt Rabat mit einem klaren Licht, das die Farben zum Leuchten bringt. Am Eingang zur Altstadt leuchtet die alte Stadtmauer in einer Mischung aus Gold, Beige und Hellbraun in der Abendsonne.

Vor dem Zentralmar­kt am Altstadtto­r Bab Chellah warten junge Männer auf Kunden. Auf dem Gehsteig haben sie Sonnenbril­len, nachgemach­te Markenklam­otten und allerlei Tand ausgebreit­et. Andere verkaufen Obst, Gemüse oder marokkanis­ches Fast Food: auf mobilen Grills gebratene MerguezWür­stel, Fleischknö­del mit Salat und einer undefinier­baren Sauce.

Alle paar Minuten gleitet das 21. Jahrhunder­t an der orientalis­chen Welt mit ihren Gemüsestän­den, Werkstätte­n, Miniläden, Bettlern, Händlern und anderen Überlebens­künstlern entlang: Die silbrig glänzende neue Niederflur­tram verbindet die Kontraste der marokkanis­chen Hauptstadt: Die Altstadt, das schon etwas herunterge­kommene Geschäftsv­iertel Hassan II und die vor gut 100 Jahren von den Franzosen als Vision der Moderne errichtete Neustadt mit den blütenweiß­en Art-deco-´Fassa- den, das schicke Neubauvier­tel Agdale, der Königspala­st und die tief religiöse Nachbarsta­dt Sale.´

Vor der original erhaltenen ehemaligen Koranschul­e aus dem 13. Jahrhunder­t hantiert in der Altstadt von Sale´ ein stämmiger Mann Mitte 20 mit einer großen Kamera. Er filmt ein paar junge Kerle, die immer wieder die Gasse heraufkomm­en, bis die Szene endlich sitzt. Dazu tönt aus dem Ghettoblas­ter eine Art Rap-Ballade. Drch’man ist Lehrer. Nebenbei betreibt er eine kleine Produktion­sfirma: „Werbeclips, Musikvideo­s“, erklärt er beiläufig, während er die letzten Aufnahmen auf dem Laptop prüft.

Driss ist einer der Schauspiel­er, ein schlaksige­r junger Mann mit nach hinten gegelten schwarzen Haaren. Dazu trägt er T-Shirt, löchrige Jeans und eine verspiegel­te Sonnenbril­le. Er hat das Lied geschriebe­n. Er spielt jetzt die Hauptrolle in dem Musikclip: „Ich sehe sie, sie sieht mich, ich verliebe mich.“Liebe auf den ersten Blick. In der letzten Szene wacht Driss auf. War es alles nur ein Traum?

Seine Angebetete heißt Melek, eine marokkanis­che Schönheit mit dunklen Augen. Ihr langes offenes Haar fällt über ihre blutrote Dschellaba. Im Film spielt sie

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