Aufbruch und Stagnation
Marokko. Die Hauptstadt, Rabat, und ihr Nachbar Sale´ ragen mit ihrer Kultur wie eine Insel aus einem Land voller Widersprüche.
bers Handy lotst Wirtin Francoise¸ ihre Gäste entlang der Stadtmauer zu einer rostroten Eisentür in einer fensterlosen, dunkelgrauen Wand. Schon die Gasse ohne Namensschild würde ein Fremder kaum finden. Marokkos um einen Innenhof gebaute Altstadthäuser, so genannte Riyads, sind von außen nicht zu erkennen. Oft haben sie keine oder nur winzige Fenster zur Straße. Der Gang schützt vor allem die Bewohnerinnen vor fremden Blicken. Drinnen gehen von einem mit bemalten Fliesen gekachelten Hof auf zwei Geschoßen die Zimmer ab.
Nur wenige Touristen verirren sich in die Altstadt von Sale,´ der Nachbarstadt von Rabat. Alte Männer stehen an rostigen Metallkarren, auf die sie Obst und Gemüse gestapelt haben: Orangen, Mandarinen, Minze, Gewürze. In winzigen Läden und Werkstätten hoffen Händler und Handwerker auf Kundschaft. Die meisten tragen die traditionellen marokkanischen Dschellabas, eine Art Kaftan in Blau, Beige oder Braun, meist aus Wolle. Bettler schütteln erwartungsvoll ihre Pappbecher.
Vor einem Betonbau jenseits der Stadtmauer stehen ein paar Männer und Frauen singend in einem Kreis. Es sind Arbeitslose, die von der Stadt Jobs fordern. Angestellte des Rathauses drängen sich an den Protestierenden vorbei, ohne sie zu beachten. Hinter dem Verwaltungsbau ragen beigefarbene Neubaublöcke in den blauen Himmel. Der Eagle-Hills-Konzern aus Abu Dhabi baut und verkauft hier Luxuswohnungen am Wasser. „Quai des Createurs“,´ Kai der Kreativen, steht in eisernen Buchstaben über der nagelneuen Uferpromenade.
Vereinzelt sitzen junge Leute auf den Stühlen, die Cafes´ auf die Straße gestellt haben: Sie sind Pioniere einer Zukunft, die der König dem Land verordnet hat: das „neue Marokko“, modern, weltoffen, jung, wirtschaftlich erfolgreich und voller Zuversicht. In den Appartementhäusern haben die Kreativen ihre Geschäfte eröffnet: Möbelund Modedesigner, Galeristen. Ziyad Nourredine, ein freundlicher, feinsinniger Herr Anfang 60, gibt in seiner Galerie Malkurse. Die vier, fünf Meter hohen weißen Wände hängen voll bunter Gemälde. Werke, die dort keinen Platz mehr finden, stehen auf dem hellen Holzfußboden. Für ein Jahr hat der Maler und Galerist den Laden gemietet. „Für die 3300 Euro muss ich jeden Monat sechs Bilder verkaufen“, beklagt er die für marokkanische Verhältnisse horrenden Kosten. Trotz der teuren Mieten am Kai der Kreativen in Sale´ strahlt der Künstler Optimismus aus. „Der Markt für Kunst ist klein, aber er wächst.“
Wenige Schritte vor Nourredines farbenfroher Insel der Zuver- sicht treibt der Wind Plastikmüll über den staubigen Streifen Brachland am Bou-Regreg-Fluss. Zwischen Behausungen aus Folien, Holzresten, alten Decken und Müll führt ein Trampelpfad zum Wasser hinunter.
Von hier rudern die Fischer in bunt bemalten Holzbooten Passanten für drei Dirham, rund 25 Cent, ans andere Ufer. Vom nahen Ozean weht frische salzige Luft herauf. Keine zehn Minuten dauert die Überfahrt zu Marokkos Hauptstadt, einer der sieben Königsstädte des Landes.
Am Ende der Uferpromenade von Rabat mit ihren Restaurants und Cafes´ thront auf einem Hügel über der Flussmündung die Kasbah des Oudayas: ein Haufen weißer Häuser hinter einem zinnenbewehrten aus getrocknetem Lehm erbauten Stadttor. Vereinzelte Touristen flanieren durch die höchstens zwei Meter schmalen autofreien Gassen zwischen den blau und weiß gestrichenen maurischen Häuschen.
An einer der Straßen sitzt ein alter Mann auf einer Matratze. Er spielt auf einer Art Laute. Dazu dreht er den Kopf, bis der blaue Bommel seiner bestickten Mütze im Rhythmus um sein Haupt kreist. Niemand interessiert sich für den Gnawa-Musiker. Seine mystischen Klänge stammen, wie der Dunkelhäutige mit dem faltenzerfurchten Gesicht, aus der Wüste im Süden Marokkos. Legt ihm jemand ein paar Münzen ins Körbchen, dankt er mit einem Lächeln, einer Zugabe und ein paar Extrarunden seines Bommels.
Der Himmel beschenkt Rabat mit einem klaren Licht, das die Farben zum Leuchten bringt. Am Eingang zur Altstadt leuchtet die alte Stadtmauer in einer Mischung aus Gold, Beige und Hellbraun in der Abendsonne.
Vor dem Zentralmarkt am Altstadttor Bab Chellah warten junge Männer auf Kunden. Auf dem Gehsteig haben sie Sonnenbrillen, nachgemachte Markenklamotten und allerlei Tand ausgebreitet. Andere verkaufen Obst, Gemüse oder marokkanisches Fast Food: auf mobilen Grills gebratene MerguezWürstel, Fleischknödel mit Salat und einer undefinierbaren Sauce.
Alle paar Minuten gleitet das 21. Jahrhundert an der orientalischen Welt mit ihren Gemüseständen, Werkstätten, Miniläden, Bettlern, Händlern und anderen Überlebenskünstlern entlang: Die silbrig glänzende neue Niederflurtram verbindet die Kontraste der marokkanischen Hauptstadt: Die Altstadt, das schon etwas heruntergekommene Geschäftsviertel Hassan II und die vor gut 100 Jahren von den Franzosen als Vision der Moderne errichtete Neustadt mit den blütenweißen Art-deco-´Fassa- den, das schicke Neubauviertel Agdale, der Königspalast und die tief religiöse Nachbarstadt Sale.´
Vor der original erhaltenen ehemaligen Koranschule aus dem 13. Jahrhundert hantiert in der Altstadt von Sale´ ein stämmiger Mann Mitte 20 mit einer großen Kamera. Er filmt ein paar junge Kerle, die immer wieder die Gasse heraufkommen, bis die Szene endlich sitzt. Dazu tönt aus dem Ghettoblaster eine Art Rap-Ballade. Drch’man ist Lehrer. Nebenbei betreibt er eine kleine Produktionsfirma: „Werbeclips, Musikvideos“, erklärt er beiläufig, während er die letzten Aufnahmen auf dem Laptop prüft.
Driss ist einer der Schauspieler, ein schlaksiger junger Mann mit nach hinten gegelten schwarzen Haaren. Dazu trägt er T-Shirt, löchrige Jeans und eine verspiegelte Sonnenbrille. Er hat das Lied geschrieben. Er spielt jetzt die Hauptrolle in dem Musikclip: „Ich sehe sie, sie sieht mich, ich verliebe mich.“Liebe auf den ersten Blick. In der letzten Szene wacht Driss auf. War es alles nur ein Traum?
Seine Angebetete heißt Melek, eine marokkanische Schönheit mit dunklen Augen. Ihr langes offenes Haar fällt über ihre blutrote Dschellaba. Im Film spielt sie