Wenn der Ruf der Wildnis verhallt
Film. „Leave No Trace” erzählt von einem Vater-Tochter-Gespann, das im Wald ein Aussteigerdasein führt – und von seiner zögerlichen Rückführung in die Gesellschaft.
Das Grün strahlt in der Abendsonne, als Vater und Tochter zusammen durch den Wald spazieren. Sie waten im Schatten der riesigen Lebensbäume durchs Farnmeer, naschen vom Klee am Wegesrand, sammeln summend Feuerholz. Zurück im Camp schnitzen sie Anzünder zum Eierkochen, und vor dem Schlafengehen wird noch ein improvisierter Griller fertiggebastelt – ein mit Alufolie ausgekleideter Regenschirm. Das Mädchen fragt, ob man damit Pilze rösten könne. Der Papa bejaht. Wäre das Ganze ein Wochenendausflug, könnte man wohl von Lagerfeuerromantik sprechen. Doch das Zweigespann ist nicht zum Spaß in der Natur – das provisorische Zeltlager ist ihr Zuhause.
Denn Will (Ben Foster) und Tom (Thomasin McKenzie) sind Aussteiger. Im schützenden Dickicht eines Nationalparks versuchen sie, die Utopie eines gesellschaftsfernen Lebens aufrechtzuerhalten. Weil das Kampieren auf Staatsgelände verboten ist, darf niemand ihr Refugium entdecken. Tom lernt Verstecken und Spurenverwischen wie andere Kinder Radfahren. „Leave No Trace”, so heißt der neue Film von Debra Granik, könnte ein Merksatz von ihr sein.
Graniks bisheriges Werk ist schmal, aber darob nicht weniger beachtlich. Ihr Interesse gilt seit jeher den Menschen, die am Rande der US-Gesellschaft ums Überleben kämpfen. Erstmals auf sich aufmerksam machte sie 2004 mit der Drogenpassion „Down to the Bone”. Darin spielt Vera Farmiga eine Kassiererin, deren Familienleben an Heroinsucht zerbricht. 2010 brachte „Winter’s Bone” den Durchbruch: Die gleichermaßen empathische wie kompromisslose Milieustudie einer verwahrlosten Gemeinde in der Ozarks ebnete Jennifer Lawrence den Weg zum Ruhm. „Leave No Trace”, der heuer in Cannes Premiere feierte, ist Graniks erste Spielfilmarbeit seit acht Jahren.
Das Warten hat sich gelohnt. Wieder ist der Regisseurin ein einfühlsames Drama gelungen, das zugleich viel über die Gegenwart der USA erzählt. Die Zärtlichkeit, mit der sie den Alltag ihrer beiden Hauptfiguren schildert, zeugt von tiefem Verständnis für ihre Sehnsucht nach Autonomie. Diese rührt nicht zuletzt von einer Enttäuschung mit staatlicher Wohlfahrt her: Will leidet als Irakkriegsveteran unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, nachts plagen ihn Albträume. Die von den Behörden verschriebenen Pillen helfen längst nicht mehr, er verkauft sie an Obdachlose weiter, um sich hin und wieder Ausflüge in den Supermarkt leisten zu können.
Irgendwann werden seine Tochter und er von Parkwächtern gefasst und bekommen die Möglichkeit, sich wieder ins Gemeinschaftsgefüge einzugliedern: ein Haus, ein Job in einer Weihnachtsbaummanufaktur. Hier wird deutlich, was sich schon vorher periodisch abgezeichnet hat: Während Tom sich, auch ihrem Alter entsprechend, nach Zugehörigkeit sehnt und zögerlich auf Menschen zuzugehen beginnt, hat Will sein Unbehagen an der Zivilisation längst verinnerlicht und sucht bloß nach einem Vorwand, um wieder im Unterholz zu verschwinden.
Graniks Regie schlägt den perfekten Spagat zwischen klassischer Dramaturgie und beiläufigem, fast schon dokumentarischem Realismus. Nebenrollen sind zum Teil mit Laien besetzt, manche Szenen (etwa Wills Einschulung in die neue Arbeit) wirken wie Ausschnitte einer Reportage. Im Unterschied zum thematisch vergleichbaren Film „Captain Fantastic”, der vor zwei Jahren in Österreich lief, verzichtet „Leave No Trace” auf Verklärung und Verteufelung – die Welt der Menschen ist weder feindselig noch kalt, eher im Gegenteil, doch Wills Bedürfnis nach Freiheit bleibt stets nachvollziehbar.
Foster spielt ihn als Mann, der nur das Beste für seine Tochter will, der nicht begreift, warum sie das nicht einsieht – im Grunde also einen ganz normalen Vater. McKenzie strahlt anfangs vor allem Zerbrechlichkeit aus; umso wirkungsvoller, als sie rebelliert und auf ihrer eigenen Unabhängigkeit beharrt. Erwachsenwerden wird hier an die Erkenntnis gekoppelt, dass ohne Vertrauen zu Fremden nichts geht. Granik findet schöne, organische und unprätentiöse Bilder für diesen Gedanken: In einer Außenseiterkolonie sieht Tom zu, wie eine Imkerin ihren Bienenschwarm ohne Netzschutz über ihre Hände krabbeln lässt, später probiert sie es selbst aus.
Diese hippiehafte Enklave liefert einen Eindruck, wie sich Granik ihr Ideal-Amerika ausmalt: Nachbarschaftshilfe, Naturverbundenheit statt Naturverlorenheit, FolkmusikDuette am abendlichen Picknicktisch. Ein bisschen kitschig ist das schon – aber es bleibt nur ein Angebot, ein unverbindliches Plädoyer für Sozialität. Die Freiheit der Wahl lässt Granik ihren Figuren, die sich irgendwann unweigerlich entscheiden müssen, ebenso wie ihren Zuschauern. Sie gemahnt bloß daran, dass Isolation und Entwicklung oft unvereinbar sind – eine Überlegung, die sich auch politisch deuten lässt.