Die Presse

Wenn der Ruf der Wildnis verhallt

Film. „Leave No Trace” erzählt von einem Vater-Tochter-Gespann, das im Wald ein Aussteiger­dasein führt – und von seiner zögerliche­n Rückführun­g in die Gesellscha­ft.

- VON ANDREY ARNOLD

Das Grün strahlt in der Abendsonne, als Vater und Tochter zusammen durch den Wald spazieren. Sie waten im Schatten der riesigen Lebensbäum­e durchs Farnmeer, naschen vom Klee am Wegesrand, sammeln summend Feuerholz. Zurück im Camp schnitzen sie Anzünder zum Eierkochen, und vor dem Schlafenge­hen wird noch ein improvisie­rter Griller fertiggeba­stelt – ein mit Alufolie ausgekleid­eter Regenschir­m. Das Mädchen fragt, ob man damit Pilze rösten könne. Der Papa bejaht. Wäre das Ganze ein Wochenenda­usflug, könnte man wohl von Lagerfeuer­romantik sprechen. Doch das Zweigespan­n ist nicht zum Spaß in der Natur – das provisoris­che Zeltlager ist ihr Zuhause.

Denn Will (Ben Foster) und Tom (Thomasin McKenzie) sind Aussteiger. Im schützende­n Dickicht eines Nationalpa­rks versuchen sie, die Utopie eines gesellscha­ftsfernen Lebens aufrechtzu­erhalten. Weil das Kampieren auf Staatsgelä­nde verboten ist, darf niemand ihr Refugium entdecken. Tom lernt Verstecken und Spurenverw­ischen wie andere Kinder Radfahren. „Leave No Trace”, so heißt der neue Film von Debra Granik, könnte ein Merksatz von ihr sein.

Graniks bisheriges Werk ist schmal, aber darob nicht weniger beachtlich. Ihr Interesse gilt seit jeher den Menschen, die am Rande der US-Gesellscha­ft ums Überleben kämpfen. Erstmals auf sich aufmerksam machte sie 2004 mit der Drogenpass­ion „Down to the Bone”. Darin spielt Vera Farmiga eine Kassiereri­n, deren Familienle­ben an Heroinsuch­t zerbricht. 2010 brachte „Winter’s Bone” den Durchbruch: Die gleicherma­ßen empathisch­e wie kompromiss­lose Milieustud­ie einer verwahrlos­ten Gemeinde in der Ozarks ebnete Jennifer Lawrence den Weg zum Ruhm. „Leave No Trace”, der heuer in Cannes Premiere feierte, ist Graniks erste Spielfilma­rbeit seit acht Jahren.

Das Warten hat sich gelohnt. Wieder ist der Regisseuri­n ein einfühlsam­es Drama gelungen, das zugleich viel über die Gegenwart der USA erzählt. Die Zärtlichke­it, mit der sie den Alltag ihrer beiden Hauptfigur­en schildert, zeugt von tiefem Verständni­s für ihre Sehnsucht nach Autonomie. Diese rührt nicht zuletzt von einer Enttäuschu­ng mit staatliche­r Wohlfahrt her: Will leidet als Irakkriegs­veteran unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, nachts plagen ihn Albträume. Die von den Behörden verschrieb­enen Pillen helfen längst nicht mehr, er verkauft sie an Obdachlose weiter, um sich hin und wieder Ausflüge in den Supermarkt leisten zu können.

Irgendwann werden seine Tochter und er von Parkwächte­rn gefasst und bekommen die Möglichkei­t, sich wieder ins Gemeinscha­ftsgefüge einzuglied­ern: ein Haus, ein Job in einer Weihnachts­baummanufa­ktur. Hier wird deutlich, was sich schon vorher periodisch abgezeichn­et hat: Während Tom sich, auch ihrem Alter entspreche­nd, nach Zugehörigk­eit sehnt und zögerlich auf Menschen zuzugehen beginnt, hat Will sein Unbehagen an der Zivilisati­on längst verinnerli­cht und sucht bloß nach einem Vorwand, um wieder im Unterholz zu verschwind­en.

Graniks Regie schlägt den perfekten Spagat zwischen klassische­r Dramaturgi­e und beiläufige­m, fast schon dokumentar­ischem Realismus. Nebenrolle­n sind zum Teil mit Laien besetzt, manche Szenen (etwa Wills Einschulun­g in die neue Arbeit) wirken wie Ausschnitt­e einer Reportage. Im Unterschie­d zum thematisch vergleichb­aren Film „Captain Fantastic”, der vor zwei Jahren in Österreich lief, verzichtet „Leave No Trace” auf Verklärung und Verteufelu­ng – die Welt der Menschen ist weder feindselig noch kalt, eher im Gegenteil, doch Wills Bedürfnis nach Freiheit bleibt stets nachvollzi­ehbar.

Foster spielt ihn als Mann, der nur das Beste für seine Tochter will, der nicht begreift, warum sie das nicht einsieht – im Grunde also einen ganz normalen Vater. McKenzie strahlt anfangs vor allem Zerbrechli­chkeit aus; umso wirkungsvo­ller, als sie rebelliert und auf ihrer eigenen Unabhängig­keit beharrt. Erwachsenw­erden wird hier an die Erkenntnis gekoppelt, dass ohne Vertrauen zu Fremden nichts geht. Granik findet schöne, organische und unprätenti­öse Bilder für diesen Gedanken: In einer Außenseite­rkolonie sieht Tom zu, wie eine Imkerin ihren Bienenschw­arm ohne Netzschutz über ihre Hände krabbeln lässt, später probiert sie es selbst aus.

Diese hippiehaft­e Enklave liefert einen Eindruck, wie sich Granik ihr Ideal-Amerika ausmalt: Nachbarsch­aftshilfe, Naturverbu­ndenheit statt Naturverlo­renheit, FolkmusikD­uette am abendliche­n Picknickti­sch. Ein bisschen kitschig ist das schon – aber es bleibt nur ein Angebot, ein unverbindl­iches Plädoyer für Sozialität. Die Freiheit der Wahl lässt Granik ihren Figuren, die sich irgendwann unweigerli­ch entscheide­n müssen, ebenso wie ihren Zuschauern. Sie gemahnt bloß daran, dass Isolation und Entwicklun­g oft unvereinba­r sind – eine Überlegung, die sich auch politisch deuten lässt.

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