Revolutionär am Boden der Realität
Armenien. Newcomer Nikol Paschinjan wird bei der Parlamentswahl wohl einen Erdrutschsieg erringen. Das Reformprogramm des Teams ist noch vage. Enttäuschungen sind programmiert.
Die Menschen eilen zum Platz vor der Stadtregierung, trotz des Regens. Sie wollen ihn reden hören, ihm Fragen stellen, ein Selfie machen. Nikol Paschinjan hat sich an diesem Tag in Abowjan angekündigt. Hunderte stehen vor einem zu einer Bühne umgebauten Truck. Viele Männer sind gekommen, die älteren in Anzügen, die jüngeren in Sporthosen. „Nikol Premierminister!“, rufen sie.
Seit dem Frühling ist Paschinjan der politische Messias Armeniens. Ein Volksaufstand gegen die von der Republikanischen Partei geführte Regierung hievte den Oppositionspolitiker ins Amt des Premiers. Doch es lief nicht alles nach Plan. Das Parlament, weiter dominiert von den machtverwöhnten Republikanern, blockierte seine Politik. Bevor die Euphorie abflauen konnte, erzwang Paschinjan Neuwahlen für den 9. Dezember.
Nun tourt er landauf und landab, schläft nicht mehr als drei, vier Stunden täglich, um mit dem Sieg seine Macht zu konsolidieren. Die Republikaner müssen um den Parlamentseinzug fürchten. Dass Paschinjans Allianz „Mein Schritt“die Wahl gewinnt, bezweifelt niemand. Sogar mehr als zwei Drittel der Stimmen scheinen möglich. Bei der Bürgermeisterwahl in Jerewan erreichte Paschinjans Kandidat unlängst 81 Prozent. Alle Voraussetzungen für ein „neues Armenien“, das der 43-Jährige in seinen Reden beschwört, wären dann erfüllt. Doch wird es ihm gelingen, alle seine Versprechen einzulösen?
Paschinjans Erfolg oder Misserfolg wird sich in Orten wie Abowjan entscheiden. Eine zu Sowjetzeiten gewachsene Ansiedlung mit zahlreichen Kombinaten, von denen heute nur noch wenige in Betrieb sind. Abowjan grenzt heute an die wuchernden Ränder Jerewans, doch vom dynamischen Flair der Hauptstadt ist hier nichts zu spüren. Wahe Daneljan war bei den Protesten dabei. „Wir haben gelernt, unsere Rechte zu verteidi- gen“, benennt der 25-jährige Biologieabsolvent den wichtigsten Effekt der Wende. Warum ist er für Paschinjan? „Nikol ist einer von uns.“Seine Regierung soll den wirtschaftlichen Aufschwung bringen. Er selbst ist arbeitslos.
Noch wirken in Abowjan und anderswo Paschinjans Worte. Der bärtige Mann mit der sanften Stimme kündigt unerhörte Dinge an, Dinge, die unter der Vetternwirtschaft der Republikaner ausgeschlossen waren. Etwa die Trennung von Politik und Wirtschaft. „Im künftigen Parlament werden keine Businessmänner sitzen“, ruft Paschinjan. Er verspricht die Ausrottung der Armut; als arm gilt fast ein Drittel der drei Millionen Bürger. Und eine „ökonomische Revolution“in der kleinen Südkaukasusrepublik ohne Meerzugang, deren Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan seit einem Vierteljahrhundert dicht sind. Nach der „Befreiung“könne nun jeder Bürger wählen, wen er wolle. „Im neuen Armenien ist nichts auf Angst gebaut. Wer das versucht, hat schon verloren.“Jubel brandet auf.
Beim Jubel werde es nicht bleiben, sagt Alexander Iskandarjan, Chef des Thinktanks Kaukasus-Institut. „Paschinjans Rating wird fal- len, das kann gar nicht anders sein.“Der künftige Wahlsieger stehe vor der Schwierigkeit, „alles von Grund auf neu zu bauen“. Es geht um den Aufbau eines hierarchischen Apparats, die Konsolidierung der disparaten Persönlichkeiten seiner Wahlplattform. Das politische System wurde durch die „Samtene Revolution“auf den Kopf gestellt. „Die Republikaner waren institutionell gut verankert, aber hatten wenig Legitimität.“Jetzt sei es umgekehrt, sagt Iskandarjan: Paschinjan habe noch nie dagewesene Unterstützung vom Volk, aber kaum institutionelle Erfahrung.
Beobachter haben daher die Neubesetzungen im Visier. Paschinjan ging bisher in Schlüsselressorts auf Nummer sicher: In den Ressorts Verteidigung und Äußeres setzt er auf langjährige Experten. Davon abgesehen erfährt die Bürokratie eine drastische Verjüngungskur. Der Diaspora-Minister ist etwa 28 Jahre alt. Der gleichaltrige Armen Gazarjan gehört ebenfalls zu den Newcomern. Der Sozialwissenschaftler wurde im Juni Chef des Migrationsdienstes. Jetzt ist er Vorgesetzter von rund 70 Beamten. „Man suchte nach Experten im Be- reich Migration. Davon gibt es in Armenien vielleicht ein Dutzend“, erzählt er. Er wolle nun sein Wissen in die Praxis umsetzen. „Ich will ein Teil dieser jungen Generation von Beamten sein.“
Was auf die Armenier nach der Wahl zukommt, ist programmatisch noch recht vage. „Die Signale sind widersprüchlich“, sagt Jenny Paturjan, Politik-Professorin an der American University in Jerewan. Sie prognostiziert trotz der eher linken Rhetorik einen rechtsliberalen Politikkurs Paschinjans. Eine unternehmerfreundliche Steuerreform wurde angekündigt, ebenso wie der Abbau der aufgeblähten Verwaltung. Neben einer stärkeren Exportorientierung stehen die Förderung von Landwirtschaft, Bodenschätzen und die Entwicklung des Tech-Sektors auf dem Plan.
Sein Land sei in der einzigartigen Lage, Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion zu sein und mit der EU ein robustes Partnerschaftsabkommen geschlossen zu haben, sagt der außenpolitische Berater Paschinjans, Arsen Gasparjan. „Mit gutem Management kann Armenien ein sehr erfolgreiches Land werden.“
Nikol Paschinjans Quest beginnt nächsten Montag.