Die Presse

Es sind nicht die Ränder – es ist die Mitte, die sich radikalisi­ert

Der Massenprot­est in Frankreich zeigt: Niemand kann sich mehr darauf verlassen, dass brave Bürger stets Ruhe und Ordnung wollen. Nur: Was wollen sie stattdesse­n?

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Im vergangene­n Jahr wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Vermummte Gestalten ziehen durch die Boulevards, schlagen Fenstersch­eiben ein und plündern Luxusgesch­äfte. Sie stecken Autos und Barrikaden in Brand. Sie besetzen den Arc de Triomphe, das Symbol französisc­hen Nationalst­olzes, und beschmiere­n ihn mit ihren Parolen. Sie stellen sich Wasserwerf­ern und Tränengas entgegen und verweigern jeden Dialog mit der Regierung.

Solche Szenen ist man, auch im streik- und demonstrat­ionsfreudi­gen Frankreich, normalerwe­ise nur von Rechts- oder Linksradik­alen gewohnt. Von Neonazis oder Autonomen. Von ausgegrenz­ten Randgruppe­n, oder von einem demoralisi­erten Unterklass­emob, der nichts mehr zu verlieren hat.

Doch was in diesen Tagen passiert, ist anders. In Frankreich toben nicht die Ränder, sondern die Mitte der Gesellscha­ft. Jene, die da mit zornverzer­rten Gesichtern ihre Parolen brüllen, sind Angestellt­e und kleine Gewerbetre­ibende, Hausfrauen, Pensionist­en, Arbeiterin­nen und Pendler. Sie wohnen nicht in Elendsquar­tieren, sondern in weniger schicken Vororten in Reihenhaus­siedlungen, in Dörfern und Häuschen mit Vorgarten. Bis vor wenigen Tagen hätte man sie noch „ganz normale Leute“genannt.

Was diese Menschen eint, ist die Wut. Auf die Regierung, die plant, per 1. Jänner die Steuern auf Benzin und Diesel zu erhöhen; auf „die da oben“, die Reichen und Mächtigen generell; auf den feschen Präsidente­n mit seinen feinen Manieren und feinen Anzügen; auf die Medien; auf die Polizei. Diese Menschen sind wütend, weil sie jeden Monat merken, dass ihr Geld nicht reicht. Weil sie das Gefühl haben, dass es auf der Welt ungerecht zugeht. Weil ihre Alltagspro­bleme in der Öffentlich­keit zu wenig vorkommen und sich niemand dafür interessie­rt. Weil sie sich ohnmächtig fühlen. Und weil sie spüren, dass der wilde Protest ihnen plötzlich Macht verleiht.

Sagenhafte 84 Prozent der Bevölkerun­g halten den Protest der gilets jaunes für gerechtfer­tigt. Wogegen die Bewegung jedoch genau protestier­t, das kann sie selbst nicht sagen. Mit billigerem Benzin allein wird sie wohl kaum zu besänftige­n sein.

Was aber will sie dann? Den Rücktritt des Präsidente­n? Eine Unterwerfu­ngsgeste seinerseit­s? Weniger Steuern, mehr Sozialleis­tungen (und wie passt das zusammen)? Die Enteignung der Reichen? Wird sie erst mit der Abschaffun­g von Kapitalism­us und Globalisie­rung zufrieden sein? Oder reichen Würstel und Freibier für alle? Es scheint, als ginge es überhaupt nicht um Ziele. Vielmehr geht es um die Bewegung an sich. Um die machtvolle, verführeri­sche, ansteckend­e Energie, die entsteht, sobald man merkt, dass man nicht mehr allein ist:

„Wir schaffen es, denen da oben, die sonst immer so souverän wirken, Angst einzujagen! Sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen, und kein Doktorat von irgendeine­r Elite-Universitä­t kann ihnen mehr helfen!“Endlich kommt man vor, endlich macht man einen Unterschie­d, endlich wird man gehört, gesehen, wahrgenomm­en. Endlich ist man wieder jemand.

Wir sind es gewöhnt, in der „Mitte der Gesellscha­ft“eine alles bestimmend­e Sehnsucht nach Stabilität zu verorten. In der Mitte seien die braven Bürger zu Hause, glaubte die Politik seit den Wirtschaft­swunderjah­ren der Nachkriegs­zeit. Brave Bürger, meinte man, wollen stets Ruhe, Regeln, Ordnung. Mit Arbeit, Konsum, ein paar kleinen Statussymb­olen und ein bisschen Unterhaltu­ng seien sie zufrieden und würden mit all ihrer geballten Kraft stets darauf beharren, dass alles so bleibt, wie es ist. Gefahr für die Stabilität drohe stets nur von den Rändern: von Fremden, Außenseite­rn, linken und rechten Extremiste­n, religiösen Fanatikern.

Um Ordnung im Staat und ein gedeihlich­es Miteinande­r aufrechtzu­erhalten, müsse Politik daher stets alles daransetze­n, die Mitte gegen die Ränder zu stärken. Die gilets jaunes zeigen uns nun: Das war ein fataler Irrtum. Die stabile Mitte gibt es nicht mehr.

Es scheint, den Demonstran­ten ginge es überhaupt nicht um Ziele. Vielmehr geht es um ihre Bewegung an und für sich.

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VON SIBYLLE HAMANN

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