Wer wird sich erinnern?
In Deutschland endeten große Prozesse im Zusammenhang mit den Massenmorden an Jüdinnen und Juden – etwa die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er-Jahren oder 2009 bis 2011 der Prozess gegen John Demjanjuk wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor – entweder teilweise mit hohen Freiheitsstrafen oder blieben zumindest im öffentlichen Gedächtnis präsent. Österreichische Prozesse wegen NS-Verbrechen sind hingegen vielfach in Vergessenheit geraten – nicht zuletzt, weil sie oftmals mit skandalösen Freisprüchen endeten, wenn die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen überhaupt hatten anklagereif gemacht werden können. Oder sie sind schon so lang her, dass sie aus dem öffentlichen Gedächtnis gänzlich entschwunden sind.
Wer weiß, dass am 31. Oktober 1945 der damals 46-jährige Johann Hölzl, von Beruf Schleifer, zum Tode verurteilt wurde, weil er – gemeinsam mit dem 25-jährigen Elektriker Johann Zemlicka – einem „Hinrichtungskommando“in dem ungarischen Ort Köszeg/Güns, wo sich seit Anfang Dezember 1944 ein Lager für ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter befunden hatte, angehört hatte?
Dort war am 22./23. März 1945 die einzige Gaskammer auf ungarischem Gebiet in Betrieb, um „nicht marschfähige“jüdische Häftlinge zu liquidieren. Am 25. März beschloss die Lagerleitung, weitere 85 „kranke und nicht marschfähige“Juden zu töten. Johann Hölzl erschoss drei Menschen. Zemlicka tötete, bevor er sich zum Mittagessen begab, acht Juden durch Erhängen. Die Gefangenen wurden zu einem improvisierten Galgen geschleppt, wo ihnen Zemlicka einen über einen Querbalken geworfenen Strick um den Hals legte und die bereits geschwächten und wehrlosen Juden aufhängte.
Zemlicka wurde wegen dieser Morde am 12. Februar 1946 zum Tod verurteilt. Johann Hölzl wurde am 21. Februar, Johann Zemlicka am 22. Mai 1946 im Richthof des Wiener Straflandesgerichts am Würgegalgen hingerichtet.
Wer weiß von den Todesurteilen gegen die damals 55-jährige Oberschwester Antonie Pacher und die 48-jährige Krankenpflegerin Ottilie Schellander am 4. April 1946 wegen der vorsätzlichen Beteiligung an der Ermordung von mindestens 200 Patienten in der Psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt sowie gegen den 44-jährigen Primarius Dr. Franz Niedermoser, der die Morde anordnete, und den 41-jährigen Pfleger Eduard Brandstätter?
Niedermoser wurde am 24. Oktober 1946 hingerichtet. Brandstätter beging am Tag der Urteilsverkündigung Selbstmord. Bei Pacher und Schellander verfügte Bundespräsident Karl Renner die Begnadigung zu 20 Jahren Freiheitsstrafe respektive zu lebenslangem Kerker.
Es sind dies nur einige wenige Beispiele von insgesamt 43 der zwischen 1945 und 1948 in Österreich gefällten Todesurteile wegen nationalsozialistischer Verbrechen. 29 Personen wurden deswegen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Insgesamt führten die vier von der provisorischen Regierung im Mai 1945 zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichteten Volksgerichte in Wien, Linz, Graz und Innsbruck auf der Grundlage des Verbotsgesetzes und des Kriegsverbrechergesetzes sowie der österreichischen Strafprozessordnung in den zehn Jahren ihres Bestehens 136.829 Verfahren durch.
Mehr als 13.000 Verurteilungen
13.601 Personen wurden verurteilt, 9.870 freigesprochen. Die Mehrheit der Volksgerichtsprozesse wurde jedoch wegen Mitgliedschaft in der NSDAP vor 1938, wegen der Übernahme bestimmter Funktionen innerhalb der NSDAP oder wegen falscher Angaben über die Parteimitgliedschaft nach 1945 geführt. Die Zahl der diesbezüglichen Urteile beläuft sich auf über 8000.
Insgesamt wurden mehr als 5000 Personen wegen NS-Gewaltverbrechen, Raub oder Denunziation verurteilt: davon rund 50 Prozent wegen Denunziation und nur etwas mehr als zehn Prozent wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (also knapp über 500 Personen). Nach der Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit 1955 kam es überhaupt nur mehr gegen 49 Personen zu einer Anklageerhebung. 20 Personen wurden durch Geschworenengerichte verurteilt (drei davon zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe) sowie 23 freigesprochen.
Diese Zahlen repräsentieren letztlich schen Widerstands (DÖW) in jahrelanger Grundlagenforschung errechneten Zahl der österreichischen Opfer des NS-Regimes mit mehr als 108.000 Personen, davon mehr als 66.500 Jüdinnen und Juden.
Doch auch wenn das Ausmaß der während des NS-Terrorregimes verübten Massenverbrechen durch österreichische Gerichte nicht einmal ansatzweise gesühnt wurde respektive gesühnt werden konnte: Es existieren Tausende und Abertausende Seiten von Akten, welche einerseits die Todesmaschinerie, an der zahlreiche Österreicher und Österreicherinnen mittelbar und unmittelbar mitwirkten, und andererseits die „Banalität des Bösen“aufzeigen, die den Alltag im NS-Regime, das Ausmaß der Entrechtung, der Ausgrenzung, der Beraubung und Ermordung jüdischer Menschen dokumentieren. „Die große Zahl der Täterinnen und Täter – vom ,kleinen‘ Denunzianten bis zum sadistischen Mörder – lässt erkennen, wie viele Menschen von den im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus begangenen Verbrechen zumindest zum Teil Kenntnis hatten. Eine dermaßen große Zahl von Verbrechen blieb niemandem unbemerkt. Die Volksgerichtsverfahren belegen eindrucksvoll, wie viele Menschen sich durch die NS-Herrschaft zu Verbrechen verleiten ließen“, schrieb der Präsident der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Martin Polaschek, in seiner Studie über die Tätigkeit des Volksgerichts Graz.
Die Prozessakten der vier Volksgerichte liegen in den Landesarchiven in Wien, Linz, Graz und Innsbruck. Die Akten der NS-Verfahren nach 1955 befinden sich zum Teil noch bei den jeweiligen Gerichten. Allesamt stehen sie der wissenschaftlichen Forschung – unter datenschutzrechtlichen Auflagen – zur Verfügung. Doch viele Jahrzehnte wussten nur wenige, dass es diese Gerichtsakten überhaupt gibt, geschweige denn waren sie in irgendeiner Weise erschlossen.
Im Gefolge der Waldheimdebatte in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre stand immer öfter nicht nur die Benennung der Opfer des NS-Regimes im Mittelpunkt des gesellschaftspolitischen Diskurses, sondern es wurden auch Fragen nach den Tätern gestellt. 1991 gestand der damalige Bundeskanzler, Franz Vranitzky, in einer Rede vor dem österreichischen Nationalrat die von Österreichern begangenen Verbrechen ein und relativierte die These von Österreich als erstem Opfer des NS-Regimes. 1993 bat er im Rahmen einer Israelreise in einer Rede an der Universität in Jerusalem die Opfer des Nationalsozialismus im Namen der Republik Österreich um Verzeihung. In einer Rede vor der Knesset anlässlich seines Staatsbesuches im November 1994 in Israel sprach Bundespräsident Thomas Klestil im Zusammenhang mit dem bisherigen Umgang der österreichischen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit von „Verdrängung“, einem fehlenden „Eingeständnis der vollen Wahrheit“.
1993 startete das Dokumentationsarchiv mit der Mikroverfilmung von Akten des Volksgerichts Wien, 1996 konnten Yad Vashem – The Holocaust Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Authority in Jerusalem und das US-Holocaust-Memorial-Museum als Kooperationspartner gewonnen werden. Mit der Gründung der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz 1998 konnte der in den Jahren zuvor begonnene Aufbau eines internationalen Netzwerkes von Einrichtungen und Wissenschaftlern, die zur justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen arbeiteten, institutionalisiert werden. Die Forschungsstelle definierte sich von Anfang an als Aufbewahrungsort von Informationen über die Akten der justiziellen Auseinandersetzung mit den NSVerbrechen in Österreich, nicht aber von den Akten selbst. Die Dokumentation erfolgt mittels Datenbanken, Mikrofilmkopien und Digitalisaten.
In den Jahren nach ihrer Gründung führte die Forschungsstelle mehrere große Dokumentationsprojekte durch, etwa die EDV-gestützte Erfassung der Kartei des Wiener Volksgerichts sowie sämtlicher Linzer Volksgerichtsakten. Darüber hinaus konnte in mehreren wissenschaftlichen Projekten die Frage des Umgangs der österreichischen Justiz mit den NS-Verbrechen im internationalen Kontext bearbeitet werden.
Als 2004 der Fall der in Wien lebenden ehemaligen Aufseherin des KZ Majdanek, Erna Wallisch, internationale öffentliche Aufmerksamkeit erlangte, gab es seitens des Bundesministeriums für Justiz deutliche Anzeichen, jenes Moratorium für die Verfolgung von NS-Verbrechen beenden zu wollen, das Mitte der 1970er begann und nur unter dem parteifreien Justizminister Nikolaus Michalek mit der Anklageerhebung gegen den in die NS-Kindereuthanasie involvierten Gerichtspsychiater Heinrich Gross im Jahre 1999 kurz unterbrochen wurde. Ein der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz zur Durchführung in Aussicht gestelltes Sachverständigengutachten konnte aufgrund des Ablebens von Erna Wallisch 2008 nicht mehr in Auftrag gegeben werden.
Der Fall Wallisch und die Folgen
Allerdings regte die damalige Justizministerin, Maria Berger, an, den Fall Wallisch zum Anlass zu nehmen, die Gründe für die bis dahin ausgebliebene Bestrafung österreichischer Straftäter im Zusammenhang mit dem KZ Lublin-Majdanek zu klären und dabei auch zu prüfen, ob möglicherweise noch nicht ausgeforschte Tatverdächtige wegen dort begangener Verbrechen vor Gericht gestellt werden könnten. Damit wurde einerseits in Österreich zum ersten Mal die systematische Erforschung eines bis dahin wenig beachteten Konzentrations- und Vernichtungslagers in einem wichtigen Teilaspekt, nämlich der verübten Verbrechen und ihrer Bestrafung, ermöglicht; andererseits erhielten durch den Vergleich polnischer, deutscher und österreichischer Majdanek-Prozesse komparatistische Forschungen zur Bestrafung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen einen wichtigen Impuls.
Die beachtliche Leistungsbilanz der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Finanzierung für eine langfristige Perspektive nicht gesichert ist. So ist es in den 20 Jahren ihres Bestehens nicht gelungen, eine Basissubventionierung zu erreichen. Diese wäre aber dringend notwendig, damit in die Antworten von Politik und Justiz auf heutige Kriegs- und Humanitätsverbrechen die Erfahrungen der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen einfließen können. Dafür ist die Kenntnis (und wissenschaftliche Analyse) ihrer „Bewältigung“nach 1945 vonnöten.
Denn durch die Erforschung der Nachkriegsjustiz und die Sicherung ihrer Dokumente wird ein auch für die tagespolitischen Herausforderungen der Gegenwart wichti
Seit 20 Jahren widmet sich die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz der Analyse von Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit NS-Gewaltverbrechen. Viel wäre noch zu tun, die Finanzierung freilich ist nach wie vor nicht gesichert. Von Claudia Kuretsidis-Haider