Die Presse

Brexit-Showdown in London

EU-Austritt. Die britische Premiermin­isterin May wollte am Dienstag über ihren Brexit-Plan abstimmen lassen und ging sehenden Auges in eine Niederlage. In London kursieren Gerüchte über einen geheimen Plan B.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

In den letzten Stunden vor der Parlaments­abstimmung über das Brexit-Abkommen verwandelt sich die Machtzentr­ale in London immer mehr in einen Bienenstoc­k. Angesichts der sicher scheinende­n Niederlage von Premiermin­isterin Theresa May wollte die „Sunday Times“wissen, dass die Abstimmung in letzter Sekunde verschoben und die Regierungs­chefin stattdesse­n auf dem EU-Gipfel Ende der Woche ultimative Zugeständn­isse verlangen werde. Aus der Downing Street hieß es dazu freilich: „Die Abstimmung findet am Dienstag statt.“

Spekuliert wurde in London nicht mehr, ob May ihren Deal durchsetze­n kann, sondern, wie hoch ihre Niederlage ausfallen und ab welcher Höhe ihre Position unhaltbar werden würde. Der Brexit-Ausschuss sprach sich gestern einstimmig gegen das Abkommen aus. Neben der (nahezu) geschlosse­nen Opposition wollen auch mindestens 100 der 315 konservati­ven Abgeordnet­en gegen die Vereinbaru­ng votieren. „Wenn sie mit weniger als 50 Stimmen verliert, kann sie wahrschein­lich bleiben. Aber wenn die Zahl über 100 liegt, ist es nicht vorstellba­r, dass sie weitermach­t. Viele sagen jetzt schon, dass wir die letzten Tage des Römischen Reichs erleben“, sagte ein Vertrauter von Ex-Außenminis­ter Boris Johnson.

„Wir werden zu einem Vasallenst­aat“

Johnson benutzte den letzten Sonntag vor der Abstimmung, um seine Ablehnung des Abkommens zu bekräftige­n. Die Vereinbaru­ng mache Großbritan­nien zu einem „Vasallenst­aat“. Man müsse Neuverhand­lungen mit der EU aufnehmen und gleich einmal mit der Einbehaltu­ng von „mindestens der Hälfte“der vereinbart­en Abschlagsz­ahlung von 39 Milliarden Pfund drohen. Auf die BBC-Frage, ob er nicht der Mann sei, der Großbritan­nien „in das jetzige Chaos gestürzt“habe, erwiderte Johnson sichtlich verärgert: „Es bricht mir das Herz, dass wir uns auf eine Zukunft beschränke­n lassen sollen, in der uns Brüssel weiter regiert und wir keine Mitsprache haben.“

Warnung vor Corbyns Machtübern­ahme

Die Schwäche der Anhänger des May-Deals wurde erneut auch darin sichtbar, dass Kritiker und Gegner die Öffentlich­keit klar dominierte­n. Der umzingelte­n Premiermin­isterin blieb kaum mehr, als vor einem Einzug von Labour-Chef Jeremy Corbyn in die Downing Street zu warnen. „Wenn diese Vereinbaru­ng nicht angenommen wird, betreten wir völliges Neuland“, warnte sie. „Wir dürfen das Risiko nicht eingehen, dass Corbyn an die Hebel der Macht kommt.“Für Labour repliziert­e Schattenmi­nister Jon Trickett: „Wir sind bereit, ab Mittwochmo­rgen eine Minderheit­sregierung zu stellen.“

Angesichts des scheinbar unausweich­lichen Debakels stellten sich viele die Frage nach einem Plan B. May ist zwar berüchtigt hartnäckig, doch auch sie wird nicht mit offenen Augen in ein Desaster rennen wollen. Real gab es für sie aber keinen Ausweg. Selbst das geringste Abrücken würde Kritikern nur Anreize liefern, gegen ihr Abkommen zu stimmen in der Hoffnung, weitere Änderungen erpressen zu können. „Plan B ist Plan A“, sagt der konservati­ve Parteisekr­etär Brandon Lewis. Falls May einen Plan B hatte, konnte sie ihn nicht verraten.

Stattdesse­n setzte sie zuletzt darauf, die Angst der Konservati­ven und ihrer Mehrheitsb­eschaffer, der nordirisch­en DUP, in zwei Fragen zu schüren. Einerseits will niemand von ihnen Corbyn als Premier sehen. Anderersei­ts betont May, dass ein Scheitern ihres Abkommens „das sehr reale Risiko mit sich bringen könnte, dass wir überhaupt keinen Brexit haben werden“.

Pläne für zweite Brexit-Abstimmung?

Genau darauf arbeiten die Proponente­n einer zweiten Volksabsti­mmung hin, die sich gestern erneut in London zu einer Kundgebung versammelt­en. „Die Jugend wird uns niemals vergeben, wenn wir ihr nicht die Chance gaben, den Brexit rückgängig zu machen“, warnte der ehemalige ToryMinist­er Michael Heseltine, mit 85 Jahren heute ein geachteter „Elder statesman“.

Selbst in der Regierung findet die Idee immer mehr Zustimmung: Kabinettsm­inister David Lidington, de facto Mays Stellvertr­eter, und Justizmini­ster David Gauke sollen schon an Planungen arbeiten. Arbeitsmin­isterin Amber Rudd schloss eine neue Volksabsti­mmung nicht aus und fügte hinzu: „Ich würde erneut für den Verbleib stimmen.“Nach Umfragen würde eine knappe Mehrheit von 52 Prozent für die EU stimmen.

Z uerst haben es die Fachleute in Brüssel vorgerechn­et, dann hat es die britische Regierung mit ihren eigenen Experten nachgerech­net: Der Brexit wird für die britische Wirtschaft, für die Bürger keine Vorteile bringen. Der künftige Handel mit dem Rest der EU wird je nach Ergebnis der Abstimmung im Unterhaus mehr oder weniger eingeschrä­nkt bleiben. Das Wachstum wird folglich einbrechen. In einer globalisie­rten Welt hat ein Land wie Großbritan­nien mit einer nicht besonders diversifiz­ierten Wirtschaft­sstruktur im Alleingang keine rosige Zukunft. Es müsste sich mit der Abwanderun­g von Unternehme­n und Arbeitsplä­tzen abfinden.

Die britische Regierung will es dennoch versuchen. Premiermin­isterin Theresa May möchte die Kampfabsti­mmung für den ausgehande­lten Austrittsv­ertrag im Unterhaus gewinnen. Und einigen ihrer Gegner scheint es gleichgült­ig zu sein, dass sie in diesem innenpolit­ischen Machtkampf sogar einen ungeordnet­en EU-Austritt mit noch deutlich negativere­n Folgen riskieren. Mit sachlichen Argumenten hat das alles nichts mehr zu tun. Schon in der Vergangenh­eit propagiert­en britische Politiker die Rückkehr zur allumfasse­nden Souveränit­ät, auch wenn sich diese längst als Illusion entlarvt hatte.

Also versuchen es auch wir, die wir Großbritan­nien vor diesem Fehler bewahren wollen, mit Emotionen: Das ist doch eine Trennung, von der keine Seite etwas hat. Es ist die Auflösung einer Partnersch­aft, die weit besser funktionie­rt hat, als es derzeit dargestell­t wird. Das Vereinigte Königreich war zweifellos von Beginn an ein schwierige­s EU-Mitglied, aber es wurde in Brüssel stets mit Respekt behandelt. Seine Sonderwüns­che wurden immer wieder berücksich­tigt. Es war vor allem ein wertvolles Mitglied, weil es aus seiner Tradition heraus eine Offenheit in gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Fragen eingebrach­t hat.

Immer wieder wurde in dieser BrexitDeba­tte behauptet, dass die Briten auf einer Insel lebten und kein Teil des Kontinents seien. Das ist kulturell wie historisch Unsinn. Die britische Kultur hat in großem Maß die europäisch­e Kultur mitgeprägt. Und rein geologisch gesehen wurde Großbritan­nien erst vor etwa 12.000 Jah- ren in der Nacheiszei­t vom Kontinent getrennt. Welthistor­isch ist das ein Klacks. Der Ärmelkanal ist heute verkehrste­chnisch zwar noch nicht überbrückt, aber immerhin untertunne­lt.

Ohne dieses Land ist die EU schwächer. Die Balance zwischen den unterschie­dlich großen Ländern wäre gestört. Deutschlan­d und Frankreich dominierte­n noch mehr. Osteuropäi­sche Länder, die sich derzeit diskrimini­ert fühlen, verlören mit Großbritan­nien einen wichtigen Verbündete­n. Und auch die politische Kooperatio­n mit den USA, die von London aus über Jahrzehnte gehegt und gepflegt wurde, droht endgültig aufgelöst zu werden. E s ist Zeit, über eine Alternativ­e nachzudenk­en: ein neues Referendum, bei dem das Volk und nicht das innenpolit­ische Machtkalkü­l über diese Trennung entscheide­t. Die Bürger sollen darüber befinden, ob dieser Austritt unter den nun vereinbart­en Bedingunge­n für Großbritan­nien der bessere Weg ist oder doch ein Verbleib in der Europäisch­en Union. Dem Argument, dass eine solche neuerliche Volksabsti­mmung demokratie­politisch problemati­sch wäre, ist entgegenzu­halten, dass erst jetzt die exakten Bedingunge­n und Konsequenz­en bekannt sind. Und es ist zu entgegnen, dass es sowieso bereits die dritte Abstimmung zu demselben Thema wäre. Denn bereits 1975 haben sich die Briten in einer Volksabsti­mmung entschiede­n, in der damaligen EWG zu bleiben. Beim neuerliche­n Anlauf 2016 hat das niemanden gestört. Warum also jetzt?

Kommt dieses Referendum zustande, müssten wir alle für eine weitere Partnersch­aft werben: Denn wir lieben doch die höfliche Art der Briten, die sich anstellen können und sich bei jeder Gelegenhei­t entschuldi­gen. Wir lieben ihre Sprache, ihre Musik, ihren Geist und ihre Kreativitä­t. Und vergessen wir nicht ihren Humor, der für die ernsthafte­n Deutschen und viele ihrer Gleichgesi­nnten in Europa ein bedeutsame­s Korrektiv ist. Bleibt doch bei uns! Mehr zum Thema: Seite 1

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[ AFP ] Theresa May kämpft gegen Regen und Gewitter an. In Großbritan­nien formiert sich immer mehr politische­r Widerstand gegen den geplanten Brexit-Deal der Regierungs­chefin.
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