Brexit-Showdown in London
EU-Austritt. Die britische Premierministerin May wollte am Dienstag über ihren Brexit-Plan abstimmen lassen und ging sehenden Auges in eine Niederlage. In London kursieren Gerüchte über einen geheimen Plan B.
In den letzten Stunden vor der Parlamentsabstimmung über das Brexit-Abkommen verwandelt sich die Machtzentrale in London immer mehr in einen Bienenstock. Angesichts der sicher scheinenden Niederlage von Premierministerin Theresa May wollte die „Sunday Times“wissen, dass die Abstimmung in letzter Sekunde verschoben und die Regierungschefin stattdessen auf dem EU-Gipfel Ende der Woche ultimative Zugeständnisse verlangen werde. Aus der Downing Street hieß es dazu freilich: „Die Abstimmung findet am Dienstag statt.“
Spekuliert wurde in London nicht mehr, ob May ihren Deal durchsetzen kann, sondern, wie hoch ihre Niederlage ausfallen und ab welcher Höhe ihre Position unhaltbar werden würde. Der Brexit-Ausschuss sprach sich gestern einstimmig gegen das Abkommen aus. Neben der (nahezu) geschlossenen Opposition wollen auch mindestens 100 der 315 konservativen Abgeordneten gegen die Vereinbarung votieren. „Wenn sie mit weniger als 50 Stimmen verliert, kann sie wahrscheinlich bleiben. Aber wenn die Zahl über 100 liegt, ist es nicht vorstellbar, dass sie weitermacht. Viele sagen jetzt schon, dass wir die letzten Tage des Römischen Reichs erleben“, sagte ein Vertrauter von Ex-Außenminister Boris Johnson.
„Wir werden zu einem Vasallenstaat“
Johnson benutzte den letzten Sonntag vor der Abstimmung, um seine Ablehnung des Abkommens zu bekräftigen. Die Vereinbarung mache Großbritannien zu einem „Vasallenstaat“. Man müsse Neuverhandlungen mit der EU aufnehmen und gleich einmal mit der Einbehaltung von „mindestens der Hälfte“der vereinbarten Abschlagszahlung von 39 Milliarden Pfund drohen. Auf die BBC-Frage, ob er nicht der Mann sei, der Großbritannien „in das jetzige Chaos gestürzt“habe, erwiderte Johnson sichtlich verärgert: „Es bricht mir das Herz, dass wir uns auf eine Zukunft beschränken lassen sollen, in der uns Brüssel weiter regiert und wir keine Mitsprache haben.“
Warnung vor Corbyns Machtübernahme
Die Schwäche der Anhänger des May-Deals wurde erneut auch darin sichtbar, dass Kritiker und Gegner die Öffentlichkeit klar dominierten. Der umzingelten Premierministerin blieb kaum mehr, als vor einem Einzug von Labour-Chef Jeremy Corbyn in die Downing Street zu warnen. „Wenn diese Vereinbarung nicht angenommen wird, betreten wir völliges Neuland“, warnte sie. „Wir dürfen das Risiko nicht eingehen, dass Corbyn an die Hebel der Macht kommt.“Für Labour replizierte Schattenminister Jon Trickett: „Wir sind bereit, ab Mittwochmorgen eine Minderheitsregierung zu stellen.“
Angesichts des scheinbar unausweichlichen Debakels stellten sich viele die Frage nach einem Plan B. May ist zwar berüchtigt hartnäckig, doch auch sie wird nicht mit offenen Augen in ein Desaster rennen wollen. Real gab es für sie aber keinen Ausweg. Selbst das geringste Abrücken würde Kritikern nur Anreize liefern, gegen ihr Abkommen zu stimmen in der Hoffnung, weitere Änderungen erpressen zu können. „Plan B ist Plan A“, sagt der konservative Parteisekretär Brandon Lewis. Falls May einen Plan B hatte, konnte sie ihn nicht verraten.
Stattdessen setzte sie zuletzt darauf, die Angst der Konservativen und ihrer Mehrheitsbeschaffer, der nordirischen DUP, in zwei Fragen zu schüren. Einerseits will niemand von ihnen Corbyn als Premier sehen. Andererseits betont May, dass ein Scheitern ihres Abkommens „das sehr reale Risiko mit sich bringen könnte, dass wir überhaupt keinen Brexit haben werden“.
Pläne für zweite Brexit-Abstimmung?
Genau darauf arbeiten die Proponenten einer zweiten Volksabstimmung hin, die sich gestern erneut in London zu einer Kundgebung versammelten. „Die Jugend wird uns niemals vergeben, wenn wir ihr nicht die Chance gaben, den Brexit rückgängig zu machen“, warnte der ehemalige ToryMinister Michael Heseltine, mit 85 Jahren heute ein geachteter „Elder statesman“.
Selbst in der Regierung findet die Idee immer mehr Zustimmung: Kabinettsminister David Lidington, de facto Mays Stellvertreter, und Justizminister David Gauke sollen schon an Planungen arbeiten. Arbeitsministerin Amber Rudd schloss eine neue Volksabstimmung nicht aus und fügte hinzu: „Ich würde erneut für den Verbleib stimmen.“Nach Umfragen würde eine knappe Mehrheit von 52 Prozent für die EU stimmen.
Z uerst haben es die Fachleute in Brüssel vorgerechnet, dann hat es die britische Regierung mit ihren eigenen Experten nachgerechnet: Der Brexit wird für die britische Wirtschaft, für die Bürger keine Vorteile bringen. Der künftige Handel mit dem Rest der EU wird je nach Ergebnis der Abstimmung im Unterhaus mehr oder weniger eingeschränkt bleiben. Das Wachstum wird folglich einbrechen. In einer globalisierten Welt hat ein Land wie Großbritannien mit einer nicht besonders diversifizierten Wirtschaftsstruktur im Alleingang keine rosige Zukunft. Es müsste sich mit der Abwanderung von Unternehmen und Arbeitsplätzen abfinden.
Die britische Regierung will es dennoch versuchen. Premierministerin Theresa May möchte die Kampfabstimmung für den ausgehandelten Austrittsvertrag im Unterhaus gewinnen. Und einigen ihrer Gegner scheint es gleichgültig zu sein, dass sie in diesem innenpolitischen Machtkampf sogar einen ungeordneten EU-Austritt mit noch deutlich negativeren Folgen riskieren. Mit sachlichen Argumenten hat das alles nichts mehr zu tun. Schon in der Vergangenheit propagierten britische Politiker die Rückkehr zur allumfassenden Souveränität, auch wenn sich diese längst als Illusion entlarvt hatte.
Also versuchen es auch wir, die wir Großbritannien vor diesem Fehler bewahren wollen, mit Emotionen: Das ist doch eine Trennung, von der keine Seite etwas hat. Es ist die Auflösung einer Partnerschaft, die weit besser funktioniert hat, als es derzeit dargestellt wird. Das Vereinigte Königreich war zweifellos von Beginn an ein schwieriges EU-Mitglied, aber es wurde in Brüssel stets mit Respekt behandelt. Seine Sonderwünsche wurden immer wieder berücksichtigt. Es war vor allem ein wertvolles Mitglied, weil es aus seiner Tradition heraus eine Offenheit in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen eingebracht hat.
Immer wieder wurde in dieser BrexitDebatte behauptet, dass die Briten auf einer Insel lebten und kein Teil des Kontinents seien. Das ist kulturell wie historisch Unsinn. Die britische Kultur hat in großem Maß die europäische Kultur mitgeprägt. Und rein geologisch gesehen wurde Großbritannien erst vor etwa 12.000 Jah- ren in der Nacheiszeit vom Kontinent getrennt. Welthistorisch ist das ein Klacks. Der Ärmelkanal ist heute verkehrstechnisch zwar noch nicht überbrückt, aber immerhin untertunnelt.
Ohne dieses Land ist die EU schwächer. Die Balance zwischen den unterschiedlich großen Ländern wäre gestört. Deutschland und Frankreich dominierten noch mehr. Osteuropäische Länder, die sich derzeit diskriminiert fühlen, verlören mit Großbritannien einen wichtigen Verbündeten. Und auch die politische Kooperation mit den USA, die von London aus über Jahrzehnte gehegt und gepflegt wurde, droht endgültig aufgelöst zu werden. E s ist Zeit, über eine Alternative nachzudenken: ein neues Referendum, bei dem das Volk und nicht das innenpolitische Machtkalkül über diese Trennung entscheidet. Die Bürger sollen darüber befinden, ob dieser Austritt unter den nun vereinbarten Bedingungen für Großbritannien der bessere Weg ist oder doch ein Verbleib in der Europäischen Union. Dem Argument, dass eine solche neuerliche Volksabstimmung demokratiepolitisch problematisch wäre, ist entgegenzuhalten, dass erst jetzt die exakten Bedingungen und Konsequenzen bekannt sind. Und es ist zu entgegnen, dass es sowieso bereits die dritte Abstimmung zu demselben Thema wäre. Denn bereits 1975 haben sich die Briten in einer Volksabstimmung entschieden, in der damaligen EWG zu bleiben. Beim neuerlichen Anlauf 2016 hat das niemanden gestört. Warum also jetzt?
Kommt dieses Referendum zustande, müssten wir alle für eine weitere Partnerschaft werben: Denn wir lieben doch die höfliche Art der Briten, die sich anstellen können und sich bei jeder Gelegenheit entschuldigen. Wir lieben ihre Sprache, ihre Musik, ihren Geist und ihre Kreativität. Und vergessen wir nicht ihren Humor, der für die ernsthaften Deutschen und viele ihrer Gleichgesinnten in Europa ein bedeutsames Korrektiv ist. Bleibt doch bei uns! Mehr zum Thema: Seite 1