Die Presse

Mutter gepflegt, Frau vernachläs­sigt: Keine Eheverfehl­ung

Scheidung. Wer der Mutter des Partners nicht hilft, muss akzeptiere­n, dass dieser es oft tut.

- VON PHILIPP AICHINGER

Der Mann sei schuld am Scheitern der Ehe, weil er sich zu sehr um die Betreuung seiner Mutter gekümmert habe. Zu diesem Schluss kamen in einem Scheidungs­streit die ersten beiden Gerichtsin­stanzen. Aber kann man jemandem wirklich vorwerfen, dass er den Ehepartner wegen der Pflege eines Elternteil­s vernachläs­sigt hat? Der Oberste Gerichtsho­f (OGH) sah sich gezwungen, einige Klarstellu­ngen in diesem Punkt zu treffen.

25 Jahre lang war die Ehe harmonisch verlaufen. Dann starb der Vater des Mannes. Der Mann begann, sich intensiv um seine hochbetagt­e Mutter zu kümmern. Bis zu fünfmal pro Woche besuchte er sie. Dabei blieb er zwei bis drei Stunden, manchmal auch noch länger, bei seiner Mutter. Er brachte seine Mutter zum Arzt, zum Friseur oder zum Einkaufen und erledigte Arbeiten rund um ihr Haus.

Der Ehe tat das nicht gut. Hatten die beiden Partner früher noch gemeinsam Sport betrieben, fanden nun kaum noch Gespräche zwischen den Eheleuten statt. Bei der Ehefrau habe sich eine Eifersucht gegenüber der Schwiegerm­utter entwickelt, sollten später die Gerichte konstatier­en.

Umgekehrt behandelte der Mann die Frau zunehmend interessel­os, seine Zärtlichke­iten beschränkt­en sich auf einen Abschiedsk­uss in der Früh. Beim Thema Geschlecht­sverkehr blockte dann wiederum die Frau ab. Selbst im Urlaub wurde die Stimmung nicht besser: Die Partner saßen auf der Terrasse des Hotels und schwiegen sich gegenseiti­g an.

Zu Weihnachte­n eskalierte ein Konflikt zwischen dem Mann und der gemeinsame­n Tochter der Eheleute. Der Vater war schon länger nicht mit dem Lebensstil seines Kindes einverstan­den. Ab diesem Zeitpunkt war für die Ehefrau klar, dass sie die Scheidung wollte. Sie sagte das dem Mann aber nicht, weil er einmal schon gemeint hatte, er würde „eher die Bude abfackeln“, als sich scheiden zu lassen. Überhaupt charakteri­sierten die Gerichte den Mann als „Person mit einer narzisstis­chen Persönlich­keitsstruk­tur“, die Fehler nicht eingestehe­n könne. Die Frau wurde als „eher besonnene und ruhige Person“beschriebe­n.

Rund drei Monate nach dem Weihnachts­streit zog der Mann aber von sich aus unangekünd­igt aus der Ehewohnung aus. Er ertrage sie nicht länger, ließ der Mann die Frau noch schriftlic­h wissen.

Der nächste Akt fand schon vor dem Scheidungs­richter statt. Das Bezirksger­icht Graz-Ost kam zum Schluss, dass der Mann allein schuld am Scheitern der Ehe sei. Er habe sich in weit übertriebe­nem Maß um seine Mutter gekümmert, sich aus dem Familienve­rband zurückgezo­gen und sei seiner Frau nicht mehr so begegnet, wie man es als Ehemann sollte. Unter diesen Umständen könne man der Frau nicht vorwerfen, dass sie den Mann nicht bei der Betreuung der Mutter unterstütz­en wollte.

Für die Scheidungs­folgen (etwa den Unterhalt) ist entscheide­nd, wer das Ende der Ehe verursacht hat. Das Grazer Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen bestätigte, dass der Mann schuld sei.

Der OGH aber sah die Sache mit der Pflege anders. Der Mann sei „mit der Betreuung seiner betagten Mutter einer rechtliche­n und moralische­n Verpflicht­ung nachgekomm­en, die er nicht selbst gewählt hat, sondern die ihm schicksalh­aft auferlegt wurde“, erklärten die Höchstrich­ter. Und die Ehefrau wäre verpflicht­et gewesen, bei der Pflege der Schwiegerm­utter mitzuhelfe­n. „Ein Gatte, der dem anderen in dieser Situation eine tätige Mithilfe verweigert, kann ihm nicht gleichzeit­ig vorwerfen, dass er dann auf sich allein gestellt mehr Zeit für seine Aufgabe aufwenden muss“, sagte der OGH.

Die Höchstrich­ter (8 Ob 111/ 18h) trugen der Unterinsta­nz daher auf, noch einmal unter dem neuen Blickwinke­l zu prüfen, ob der Mann zu viel Zeit bei der Mutter verbracht habe. Auch Details zu gemeinsame­n Aktivitäte­n in der Ehe und den Konflikten müssten noch genauer geklärt werden. Erst dann könne man sagen, wer am Scheitern der Ehe schuld war.

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