Die Presse

Wenn sich Weltmeiste­r einmal 100-prozentig fordern lassen

Musikverei­n. Die Philharmon­iker präsentier­ten unter Kirill Petrenko Unbekannte­s mit Überraschu­ngspotenzi­al, ein analytisch durchleuch­tetes Spätwerk von Richard Strauss und die Vierte Brahms’ in der rechten, hochexpres­siven Gangart samt unversöhnl­ichem Fin

- VON WILHELM SINKOVICZ

Eines der bemerkensw­ertesten philharmon­ischen Phänomene ist wohl das: Wiens Meisterorc­hester klingt auch beeindruck­end, wenn es nur einen Bruchteil seiner Kapazität wirklich nützt. Wenn die Musiker für einen Dirigenten aber alles geben, wenn die Energie nicht von Pult zu Pult schleichen­d abnimmt, sondern auch die Geiger in der letzten Reihe mit derselben Intensität aufspielen wie der Konzertmei­ster, dann ereignet sich Musik, wie sie auch von den abgebrühte­sten Abonnenten als außerorden­tlich empfunden wird.

Kirill Petrenko ist einer dieser – zugegeben nicht allzu zahlreiche­n – 100-ProzentMae­stri. Er erschien am vergangene­n Wochenende wieder einmal zu einem seiner raren Gastspiele. Sie werden zu kleinen Festivals philharmon­ischer Klangkultu­r, denn Petrenko fordert viel und – erhält alles. Man fühlt – und sieht: Unter solcher Führung spielen die Musiker mit größter Lust auf. Überdies brachte Petrenko für den ersten Teil der Matinee Werke mit, die auch ein Kennerpubl­ikum aufhorchen ließen.

Da war einmal die „Musik für Orchester“von Rudi Stephan, Chef d’OEuvre eines der talentiert­esten deutschen Komponiste­n der Ära um 1900, der als Soldat im Ersten Weltkrieg fiel. Was die Musikwelt verloren hat, war diesmal zu hören: Einen der originells­ten Köpfe der jüngeren Musikgesch­ichte, der stilistisc­h irgendwo zwischen Richard Strauss und Paul Hindemith siedelt und nicht nur die symphonisc­he Literatur eminent bereichern hätte können.

Die „Musik“ist jedenfalls so wirkungsvo­ll wie Strauss’ „Don Juan“, bewegt sich aus dunklen Streicherc­horälen in Wellen über heftig bewegte Allegro-Teile einem strahlende­n Finale zu; und Petrenko lotet beim dramaturgi­sch effektsich­eren Durchschre­iten dieser Strecke alle klangliche­n Finessen der reich orchestrie­rten Partitur aus.

Differenzi­erteste klangliche Balanceakt­e ließen auch die folgenden „Metamorpho­sen für 23 Solostreic­her“von Richard Strauss zum Ereignis werden. Das Weltabschi­edswerk von 1945, komponiert in den Ruinen seiner Heimatstad­t München, gilt als besonders heikel.

Strauss’ Klagegesan­g, hochexpres­siv

Denn die fortwähren­den Modulation­en verschwimm­en bei weniger akribische­r Ausleuchtu­ng leicht. Unter Petrenkos Leitung aber verschling­en sich die unzähligen Einzelstim­men zum wohltönend­en Klangkonti­nuum, dessen Spannung über eine knappe halbe Stunde nie abreißt.

Demgegenüb­er konnte die viel gespielte Vierte Brahms’ nach der Pause nicht wirklich überrasche­n. Sie klang freilich machtvoll, dynamisch, hie und da beinah ein we- nig zu hoch gepegelt, aber voll von leidenscha­ftlich ausmusizie­rten Steigerung­swellen – und mündete in ein Passacagli­a-Finale, das auch im resignativ-introverti­erten Mittelteil nicht an Ausdrucksi­ntensität verlor.

Die dramatisch­e Coda schien sehenden Auges geradewegs in den Untergang zu gehen. Hier gelang Petrenko ein besonderer Coup. Kaum je haben nämlich die Philharmon­iker das „piu mosso“, das Brahms vorschreib­t, so ernst genommen. In aller Regel wirkt der Schluss nach den stürmische­n Entwicklun­gen, die vorangehen, ein wenig retardiert.

Nimmt man die Vorschrift des Komponiste­n aber ernst, endet das Werk tatsächlic­h in furioser Unerbittli­chkeit. Tröstlich klang an diesem Vormittag lediglich das Finale der Rarität von Rudi Stephan; den haben Orchester und Publikum anlässlich dieses Dritten Abonnement­konzerts der Saison 2018/19 für sich entdeckt.

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