Solschenizyn, der dem Westen peinliche Jubilar
100. Geburtstag. Enthüllungen über die sowjetische Lagerhölle machten Alexander Solschenizyn in Europa zum Star, nun weicht man seinem Jubiläum aus. Das hat wohl auch mit seiner Sicht auf Demokratie, Freiheit oder russische Grenzen zu tun.
Vor 44 Jahren kam er nach Deutschland und wurde der im Westen berühmteste Sowjetdissident. Heute wäre der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn hundert Jahre alt – und fast nichts passiert. Deutschsprachige Verlage brachten dem einst Bejubelten nicht einmal Neuauflagen seiner Werke.
Liegt es nur daran, dass die Schrecken des stalinistischen Gulags schon so ferne liegen, deren Alltag der Autor acht Jahre lang durchlebt und später detailliert enthüllt hat, wie vor ihm kein anderer? Wohl nicht. Solschenizyn, in den Siebzigerjahren und noch lange danach als Held des Widerstands und der Freiheit bejubelt, ist für den Westen heute ein schwieriger Jubilar. Die Annexion auf der Krim hätte er zweifellos begrüßt, wäre er nicht schon 2008 gestorben. Putin stand er in den Jahren davor positiv gegenüber, als einem starken Führer aus dem postkommunistischen Chaos heraus (das Solschenizyn nach seiner Rückkehr nach Russland 1994 miterlebt hatte). Gorbatschow verachtete er als Totengräber von Russlands Macht.
Marktwirtschaft wiederum, Konsumgesellschaft und Freiheit im Sinn von Selbstverwirklichung und Individualismus hielt er vor allem für zerstörerisch, den Westen für dekadent und spirituell verarmt – das machte er schon in seiner berühmten Harvard-Rede 1978 klar. Er predigte Selbstbeschränkung und die moralische Erneuerung eines christlichen Russlands – zu dessen Essenz für ihn auch die Russen außerhalb der russischen Grenzen und die Ukraine gehörten. Er war auch kein Demokrat in unserem Sinn, gewann dem Zarenreich viel Positives ab, sah etwa die damalige lokale Selbstverwaltung als vorbildlich, Zwang und Gewalt zum Schutz gegen Anarchie für legitim. Und die Passagen über sexuelle Minderheiten in seinem Hauptwerk, „Archipel Gulag“, dürfte wohl kein österreichischer Lehrer ungestraft seinen Schülern zur Lektüre geben.
Als Kritiker des stalinistischen Terrorsystems freilich war und ist Alexander Issajewitsch Solschenizyn ideologisch kompatibel. 1945 wurden dem damaligen Leninisten stalinkritische Briefe an einen Freund zum Verhängnis. Statt sein vor dem Kriegsdienst begonnenes Mathematikstudium weiterzuführen, landete der 26-Jährige für acht Jahre in Arbeitslagern des Gulag (so der Name für das Netz von sowjetischen Straf- und Arbeitslagern), ergänzt durch vier Jahre Verbannung in ein kasachisches Steppennest.
Danach wurde Solschenizyn Lehrer. In der „Tauwetter“-Zeit unter Chruschtschow, als das Land voll von heimgekehrten Sträflingen war, konnte er 1962 ungehindert seine ersten schockierenden Alltagsschilderungen aus dem Gulag veröffentlichen: „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. 1973 war es mit dieser Freiheit vorbei: Als der erste von insgesamt drei Bänden des „Archipel Gulag“in Paris erschien, begann die SolschenizynAffäre: Der Autor wurde des Landes verwiesen, außen bejubelt, sein Kollege Heinrich Böll nahm ihn auf. Und Solschenizyns Name wurde zu einem Synonym für Kritik am Kommunismus.
Solschenizyn war zwar nicht der Mann, der den Westen über das Gulag-System aufklärte – darüber war schon vieles bekannt. Einzigartig und schockierend aber war die Ausführlichkeit seiner Schilderungen, gepackt in Literatur. Der Protagonist von „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ist ein ideologisch desinteressierter Zimmermann, der sich nur ein normales Leben wünscht; er spiele die Rolle des Jedermann, meinten die Verfasser des amerikanischen Vorworts 1963. Der Schrecken liegt hier im „alltäglichen“Detail: wenn Iwan etwa vom Fisch selbstverständlich auch die Augen isst, um mehr im Magen zu haben – es sich zugleich auch bei größter Kälte nicht nehmen lässt, beim Essen die Haube abzunehmen. Sein treuester Begleiter ist ein Löffel, den er im Krieg aus Aludraht gemacht hat.
Das Schlimmste hier aber ist, dass die spärlichen Nachrichten vom Sowjetleben draußen am Ende nicht einmal mehr die „Freiheit“als Ziel lassen: Iwan „wusste jetzt selbst nicht mehr, ob er die Freiheit wollte oder nicht . . . Und er wusste wirklich nicht einmal genau, wo das Leben besser war, zu Hause oder hier.“Sein religiöser Mithäftling Aljoscha rät ihm sogar zur Dankbarkeit: „Hier können Sie an Ihre Seele denken.“
Eine „Schulung für die Seele“sei die Haft, schrieb Solschenizyn auch ein Jahrzehnt später im „Archipel Gulag“. In diesen drei Bänden geht es nicht mehr um einen, sondern um unzählige Häftlinge – und hier bezieht der Autor selbst auch ideologisch explizit Position: über die Sowjetunion, Stalin und den Terror. Diesen sieht er nicht (mehr) als Verirrung des kommunistischen Systems, die Schuld beginnt bei Lenin.
Anderes am „Archipel Gulag“ist heute schwerer verdaulich. So werden homosexuelle Männer vom Autor nur verächtlich „suka“(Hündin) genannt, lesbische Neigungen werden als Krankheit gesehen. In einer Passage erzählt Solschenizyn von einer Massenvergewaltigung und dem Neid der nicht davon betroffenen Frauen.
Solschenizyn fühlte sich als Exilant vom Westen vereinnahmt. Heute wird er weniger vereinnahmt als offenbar verlegen beschwiegen. Russland fängt nun mehr mit ihm an – selbst wenn sich die Regierung lieber an Stalin als Kriegssieger denn als Massenmörder erinnert. 2017 landete Solschenizyn in einer Umfrage auf Platz fünf der russischen Idole (Platz 1: Gagarin). Putin verlieh ihm den Staatspreis, zitiert ihn in Reden, hat heuer Feierlichkeiten angeordnet. Seit 2006 erscheint eine 30-bändige Edition seines Gesamtwerks. Und am Bolschoi Theater in Moskau hatte am Freitag „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“als Oper Premiere: dirigiert von dem in den USA lebenden Musiker-Sohn des Jubilars, Ignaz Solschenizyn.