Warum es keine tief greifenden Reformen in Russland geben wird
Unter Wladimir Putins Herrschaft wuchert ein gewaltiges Heer von Staatsdienern, das jegliche Veränderung scheut.
V on 1999 bis 2017 hat sich in Russland die Zahl der Beamten von 780.000 auf 1,37 Millionen beinahe verdoppelt. Die Zahl der Angehörigen der diversen Sicherheitsapparate (Polizei, Militär, Geheimdienste, Grenzschutz) beträgt gut vier Millionen. Insgesamt dürfte die Zahl der Mitarbeiter staatlicher Organe und Institutionen 7,9 Millionen Personen ausmachen; das wären elf Prozent der landesweit 72,54 Millionen Beschäftigten. Rechnet man auch noch die Familienangehörigen all dieser Staatsdiener dazu, kommt man auf 17 bis 18 Prozent der aktiven Bevölkerung. Zum Vergleich: In den USA beträgt die Zahl der Angestellten aller staatlichen Einrichtungen, eingeschlossen das Personal der nationalen Sicherheitsdienste und der Bundespolizeibehörde FBI, 1,86 Millionen, was 1,21 Prozent der Gesamtbeschäftigten entspricht.
Diese Zahlen hat der russische Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew zusammengetragen, sie in der Wochenzeitung
veröffentlicht, und die Website hat seine Ausführungen auch einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht. Die Kernthese: Es ist diese gewaltige Zahl an selbstzufriedenen, spießigen, angepassten, immobilen Staatsdienern, die eine Modernisierung Russlands praktisch unmöglich machen: „Gerade diese unglaublich aufgeblasene Schicht von ,Verwaltungsbeamten‘ und ,Sicherheitsspezialisten‘ ist der eigentliche Grund, warum Reformen in Russland nicht durchgeführt werden können. Dieses bösartige Geschwür, entstanden durch ein energiegeladenes Karzinogen der 2000er-Jahre, ist inoperabel.“Übrigens sieht Inosemzew in der Ukraine genau dasselbe Geschwür aus Beamten und Silowiki wuchern, deshalb sind auch dort tief greifende Reformen ausgeblieben.
Inosemzew zufolge müssten bei ernsthaften Reformen in Russland drei bis vier Millionen Staatsdiener entlassen werden. Ein solches Manöver aber sei „technisch unmöglich“. Hoffnungen auf baldige und radikale Umwälzungen bleiben deshalb eine Illusion. D er britische Russland-Experte Mark Galeotti hat für das bulgarische Magazin die zwei Arten der hybriden russischen Kriegsführung untersucht (zu finden ist der Artikel auch im Onlinekulturmagazin Erstens glauben die Russen, dass moderne Technologien und moderne Gesellschaften bedeuteten, dass einem Schießkrieg sehr wahrscheinlich eine Phase der politischen Destabilisierung vorausgehe. „Die zweite Art hybrider Kriegsführung ist der politische Krieg, den Moskau gegen den Westen führt, nicht, um den Boden für eine Invasion zu bereiten, sondern um den Westen derart zu spalten, zu demoralisieren und zu verwirren, dass der Kreml seinen Anspruch auf die seiner Ansicht nach berechtigte Rolle als Großmacht behaupten kann.“
Und was kann der Westen dagegen tun? Die beste Abschreckung gegen politische Kriegsführung seien weniger spiegelgleiche Reaktionen, glaubt Galeotti. Vielmehr müsste der Widerstandswille in der Gesellschaft geweckt und gestärkt werden, sodass Subversion zum Scheitern verurteilt sei. Konkret: effektive Spionageabwehrbehörden, ausreichende Überwachung von Geldflüssen, wirksame Korruptionsbekämpfung im eigenen Land, Immunisierung einer neuen Generation von Bürgern gegen Manipulationsversuche – woher immer sie auch kommen mögen; und vor allen Dingen „die Verbesserung der Wirksamkeit und damit der Legitimität der eigenen existierenden politischen Strukturen“.